Die Expertentagung wurde von Prof. Herb, der zudem für einige Semester an der Hochschule für Philosophie einen Lehrauftrag für politische Philosophie wahrnahm, und der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. veranstaltet. Tagungsort war das Bildungszentrum in Wildbad Kreuth. Die Tagung gliederte sich in der Hauptsache in die Bereiche (I) des Umfeldes der politischen Philosophie Kants, (II) der Reaktionen auf seine Entwürfe und (III) ihrer Fruchtbarkeit für eine systematische politische Philosophie heute.
Die Diskussionen, die sich jeweils im Anschluss an die Referate ergeben haben, sind in den einzelnen Beiträgen bereits einigermaßen eingearbeitet worden. Besonders bleibt festzuhalten, dass der Exeundum-Satz (d.i. die Begründung, warum der Naturzustand verlassen werden müsse; §8 der „Metaphysik der Sitten“) immer wieder für Kontroversen gesorgt hat.
Am ersten Tag untergliederte sich die Analyse von Kants Philosophie in (Ia) eine Einordnung in die Geschichte der modernen politischen Philosophie durch Prof. Dr. Dr. Karlfriedrich Herb (Politische Theorie u. Ideengeschichte, Regensburg), in (Ib) die Tradition des Liberalismus durch Prof. Dr. Norbert Waszek (Geschichte der Philosophie, Paris/FR) und in (Ic) die völkerrechtlichen Problemfelder durch Prof. Dr. Henning Ottmann (Politische Philosophie, München).
(Ia) Kant und die Freiheit der Modernen
Herb hat in seinem Referat den Freiheitsbegriff der Autoren der Moderne gegeneinander abgegrenzt. Dazu hat er den Vorwurf durch Benjamin Constant aufgegriffen, Kant vertrete einen unzumutbaren Rigorismus. Dies macht Constant an Kants These zum Verbot, aus Menschenliebe zu lügen, selbst wenn das den Tot dieses Menschen nach sich zieht, fest. Er vermisse bei Kant Zwischenprinzipien und eine entsprechende Urteilskraft.
Die Antwort hierauf hat Herb anhand der Begründung des Rechtszustandes rekonstruiert. Kant sucht einen Weg zwischen dem Ideal des Hobbes und dem Ideal von Rousseau, wenn er die Notwendigkeit zum Vertragsschluss begründet. Den Ausgang hierzu bietet das äußere Mein und Dein als eine privatrechtliche Relation. Daran macht Kant fest, dass es einen Skandal des Naturzustandes gebe, da ich zwar Besitznahme (äußeres Mein und Dein), aber kein rechtlich durch den anderen zu respektierendes Eigentum haben kann. Dadurch wird der Naturzustand selbst zu Unrecht.
Daher, meint Kant, gebe es ein Recht zur Nötigung, mit einem anderen in ein Rechtsverhältnis zu treten, wenn dieser Skandal evoziert wird. Es gibt also ein Zwangsrecht, mit jemanden dazu zu nötigen, in den Staat einzutreten. Das ist die negative Freiheit, die allerdings durch eine Allgemeinheitsformel als ein Menschenrecht ausbuchstabiert wird, das jedem zukommt. Durch die Kollisionsprämisse, Menschen kämen immer in Kontakt und somit in Konflikte, wird ein politischer Atomismus somit von vorn herein abgelehnt, so dass Kants Theorie nach Herb ein von Grund auf intersubjektiver Ansatz sei (vs. Ideal des Hobbes).
Nun aber ist damit Constants Einwand noch nicht ausgeräumt. Denn dieser versteht unter der Freiheit eine Freiheit von den staatlichen Organen, vom Staat selber. Kants intersubjektive Freiheit ist gerade das Gegenteil.
Denn für Kant sind Freiheit und Staat kein originärer Gegensatz. Es ist ein neuzeitlicher Platonismus, den Staat so als das Bonum primum anzusehen, indem er mit der Freiheit strukturell verbunden wird. Das Problem, das oberflächlich dadurch nicht zurücktritt, ist dasjenige, wie es mit der individuellen Glückseligkeit bestellt sei. Als Antwort von Kant hierzu mag genügen, auf die Entwicklung des Rechtsbegriffs zur Partizipation zu verweisen. Diese ist freilich keine direkte Demokratie, sondern besteht in der Teilhabe an der Legislative durch Repräsentation. Denn der Gemeinwille dient Kant nicht als (immanentes bzw.) Realprinzip der Gesetzgebung, sondern als Kriterium für die Geltung eines Gesetzes (vs. Ideal von Rousseau).
Insgesamt lehnt Kant als das republikanische Prinzip den Tugendbegriff ab, den Montesquieu mit dieser verbunden hat, sondern fragt nach der Pflicht, den Naturzustand zu verlassen.
(Ib) Republik und Markt - Kant und die schottische Aufklärung
Waszek hebt das Problem hervor, wie der Machtapparat des republikanischen Staates auch eine wirtschaftliche Organisationsform sein kann. Damit greift er ein zentrales Problem auf, ob Kant immer noch aktuell sein kann, da die letzten 200 Jahre die Relevanz der Ökonomie für die Politik illustriert haben. Eine ökonomisch blinde Theorie über den Aufbau des Staates wäre heute nicht mehr akzeptabel. Die Quellen für eine Beantwortung dieses Problems sucht Waszek in Kants Lektüre der Schottischen Aufklärer.
Zum Begriff der Schottischen Aufklärung sind zunächst einige Vorbemerkungen zu machen. Wichtig ist, dass Kant die Schotten als eine Schule aufgefasst hat, die sie wegen ihres regen Austausches untereinander waren. Es geht nicht nur um Individuen, die zufällig in eine ähnliche Richtung verweisen. Als Hauptvertreter nennt Waszek David Hume (1711-1776; Spekulative u. moralische Philosophie, Historiker), Adam Smith (1723-1790; politische Ökonomie, Moral- u. Rechtsphilosophie), der nicht nur Herausgeber von Humes Nachlasswerk der Dialoge über natürliche Religion, sondern auch Kants „Liebling“ (Brief von Marcus Herz, Akademie Ausgabe Bd. X, S. 126) war, Adam Ferguson (1724-1816; Begründer der Soziologie) und Francis Hutcheson (1694-1747; Moralphilosophie u. Ästhetik). Ihren gemeinsamen Nenner macht Waszek in folgenden Momenten aus: Sie verfolgen eine neue Anthropologie des moralischen Sinns und der Sympathie. Ihre Geschichtsphilosophie ist zwar auf Fortschritt ausgerichtet, aber dabei reflektieren sie seine sowohl die Vor- als auch die Nachteile. Sie entdecken die politische Ökonomie und entwickeln eine neue Ästhetik. Ihr Einfluss auf die deutschen Philosophen lässt sich durch vier Etappen beschreiben: Übersetzungen, Rezensionen, populärwissenschaftliche Schriften und die Aufnahme in den Vorlesungsbetrieb selbst.
Waszek macht in Kants Schrift über den "Mutmaßlichen Anfang der Menschheitsgeschichte" (1786) die Momente von Arbeitsteilung und Produktaustausch aus. Diese verweisen in ihrer Form auf die Lektüre von Adam Smith. Denn in der Kultur machen sie im Widerstand gegen das pessimistische Moment des Zeitvertreibs und im Einklang mit dem Fleiß eine Art Regierung aus. Reichtum erscheint als eine Bedingung für die Macht des Staates. Daher muss der Staat immer schon in seinem eigenen Interesse dafür sorgen, dass sich der Fleiß durchsetzt. Diese Pazifizierungswelle durch die gesellige Ungeselligkeit schlägt sich so auch im Völkerrecht nieder, da Handel und Gewerbe als Bedingung für weiteren ökonomischen Wohlstand ausgemacht werden können. Diese setzen aber eine individuelle Freiheit der Wirtschaftakteure voraus, die wiederum selbst immer mehr Freiheit einfordern, um weiter wirtschaften zu können.
Als Wurzel für diese Überlegungen macht Waszek abschließend insbesondere Hume aus (in seinem Aufsatz "Über die Verfeinerung der Künste").
Damit wäre das Problem, ob Kant angesichts der Bedeutung der Wirtschaft für die Politik einer Aktualität fähig ist, gelöst. Denn die Theorie vom arbeitsteiligen Prozess als eine Grundlage der modernen politischen Soziologie ist mit Kants Ansatz kompatibel.
(Ic) Der ewige Friede als reales Ideal - Kants Theorie des demokratischen Friedens
Ottmann analysiert Kants Friedensschrift vernehmlich unter der systematischen Optik, dass sie als Grundlage für Theorie des demokratischen Friedens angeführt wird. Demnach führen Demokratien (Kant: Republiken) untereinander keinen Krieg. Das entspricht Kants erstem Definitivartikel (auch wenn Kant den Begriff der Demokratie anders als der heute übliche Gebrauch als eine Pöbelherrschaft verwendet).
Als Einwände gegen eine solche Theorie zu einem ewigen Frieden führt Ottmann zunächst folgende Punkte auf: In der Erfahrung ist eine solche Theorie nicht bestätigt, da insbesondere die römische Republik oder die ersten Republiken nach der Französischen Revolution einen aktiven Imperialismus betrieben haben. Darüber hinaus hätte ein Völkerbund (keine Weltrepublik oder ein Weltstaat) keine Sanktionsgewalt gegenüber den Staaten, da in der klassischen Souveränitätslehre ein Interventionsverbot besteht. Denn der Zustand der Staaten untereinander ist ein Naturzustand besonderer Art. Das Besuchsrecht als Verbot des Kolonialismus hat ferner keine Aktualität mehr, weil die heutige Migrationsproblematik einen weit differenzierteren Begriff der Hospitalität erfordert. Schließlich ist der (gedämpfte, nicht direkt religiöse) Chiliasmus als eine Pflichtlesart der Geschichte unzumutbar geworden. Denn der metaphysische Geschichtsprozess eines Menschenrechtsenthusiasmus fordere das „als ob“ der Ethicoteleologie.
Der empirische Verweis, Frieden und Demokratie wären korreliert, kann natürlich nicht ausreichen, um die Theorie des demokratischen Friedens zu beweisen.
Einige Argumente derjenigen, die für den Idealismus als Paradigma wissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Politik streiten, wären nach Ottmann folgende: Ein historisches Argument stellt fest, dass es nach 1800 tatsächlich keine derartigen Kriege unter Demokratien gegeben habe, obwohl Demokratien gegen Nicht-Demokratien ohne die Theorie zu verletzen. Die Schwäche dieser Position liegt nun aber darin, dass sie weder allgemein akzeptable Kriterien für Demokratien, noch für Kriege nennt. Abgesehen davon kann sie aus der Korrelation keine Kausalität herauslesen. Dezidierter erscheint hingegen schon die Hypothese, dass die rechtsstaatlichen Entscheidungsprozeduren in Demokratien Kriege unwahrscheinlich machen. Diese Position lehnt Ottmann nicht ab, obwohl er wegen der Folgeprobleme des ideologisierten Krieges und der Abschwächung der Theorie zur bloßen Unwahrscheinlichkeit statt Unmöglichkeit eines Krieges zwischen Demokratien ihr nicht vollständig zustimmen kann. Kants weiteres Argument, das Volk wäre immer gegen Kriege, da es der Leidtragende ist, und somit eine höhere Volksbeteiligung die Kriege verhindern würde, ist aus dem Ideologieargument ebenfalls nicht ungeteilt zuzustimmen. Der vorausgesetzte Obersatz, dass das Volk hierzu (überwiegend) rational entscheiden müsse, ist jedoch m.E. kein Einspruchgrund. Da der Handelsgeist die erzwungene Rationalität (die Gradheit des krummen Holzes) beweist und bei Kant nur die Menschen politisch beteiligt sind, die ökonomisch aktiv sind, wäre das Volksargument von dieser Seite nicht angreifbar. Als vierten Punkt benennt Ottmann das Vertrauen unter Demokratien, da sie sich ihre innenpolitische Friedfertigkeit als Wesen der Demokratie gegenseitig darstellen, so dass gilt: Frieden erzeugt Frieden.
Allen diesen Positionen hält Ottmann jedoch entgegen, dass sie gegenüber systembedingten Gesichtspunkten blind sind. Diese wären etwa die geopolitische Lage, der Fortschritt in der Waffentechnologie oder die Größe die Größe eines Staates (Beispiele: Ein Angriff Dänemarks gegen Russland "Größe" ist ebenso unwahrscheinlich wie einer Belgiens gegen Australien –Entfernung– oder einer Kanadas gegen die USA –Bewaffnung–). Darüber hinaus kommt die Blockbildung als Ursache eines negativen Friedens (endlicher Waffenstillstand) nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in Betracht, der alle Demokratien (direkt oder indirekt) gebunden hat.
Im Ergebnis stellt Ottmann fest, Kant und seine Nachfolger der Theorie des demokratischen Friedens haben einen unzulänglichen Mangel an neo-/realistischen Momenten. Die Themenfelder eines hegemonialen Friedenbegriffes, Machtbalancen und die Verbindung von Frieden und einer globalen distributiven Gerechtigkeit wären im Mindesten einzufordern. Das Oxymoron im Titel des Vortrags von einem „realen Ideal“ wäre nach Ottmann wenigstens in diesem Sinne zu korrigieren.
Am zweiten Tag wurden in den drei Vorträgen Kants Einflüsse auf andere Denker vorgestellt. (IIa) Als vermeintlich alternative Philosophien wurden zunächst Hamann und Herder durch Prof. em. Dr. Ulrich Gaier (Germanistik, Konstanz) diskutiert. (IIb) Danach stellte das Verhältnis zwischen Kant und Schiller Prof. Dr. Peter Brenner (Germanistik, Köln) vor. Den Abschluss des mittleren Blocks (IIc) bildete Nietzsches "Kritik" an Kant, die Prof. em. Dr. Ernst Sandvoss (Philosophie, Saarbrücken) diskutierte.
(IIa) Hamann und Herder - eine philosophische Alternative zu Kant?
Der Vortrag von Gaier setzte bei der biographischen Einordnung von Immanuel Kant (1724-1804), Johann Georg Hamann (1730-1788) und Johann Gottfried Herder (1744-1803) an. Im Beginn verband alle drei eine tiefe Freundschaft. Kant und Hamann haben zusammen bei dem Wolffianer Martin Knutzen (1713-1751) studiert und zunächst dessen Physicotheologie als gemeinsames Forschungsprojekt vertreten. Herder wiederum hat während seiner Königsberger Zeit bei Kant und Hamann studiert und war für Kant gleichsam ein Musterschüler, dessen Mitschriften Kant als herausragende Zusammenfassung seiner Vorlesungen würdigte und vor den Kursen verlas. Aus dem gemeinsamen Gedankengut der Physicotheologie lassen sich zwei Stränge unterschieden: Die naturphilosophische, der Kant anhing, und die ästhetisch-hermeneutische Richtung, der Hamann und dann auch Herder folgten.
Im Vorfeld zur Preisschrift "Was ist Aufklärung" (1784) ließ Friedrich II. die Berliner Akademie der Wissenschaften gegen deren Willen die Preisfrage stellen: "Ist es dem Volke nützlich, getä??????Auscht zu werden?" Die politische Realität hinter diesem Ereignis ist die Suche des Monarchen nach einer Legitimation für seine Regentschaft ohne konkrete Rechtfertigungsanforderungen. Im Zuge der Auszeichnung der Gewinner verfügt er so auch die Teilzensur über die Akademie.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie Kant und Hamann auseinander gegangen sind. Kant rechtfertigt in seiner Antwort den Zwang zur Verhinderung der Meinungsfreiheit als einen Ausdruck von Vernunft in der Politik. Dies sei der harte Kern um den Keim der Freiheit (Akademieausgabe Bd. VIII, S. 41). Hamann nun sieht den Ausgang aus der Unmündigkeit zwar ebenso wie Kant als die Aufgabe der Aufklärung, allerdings nicht aus der Selbstverschuldeten, sondern aus der Staatsverschuldeten. (Die Unmündigkeit stink, sozusagen vom Kopf her.)
In der Geschichtsphilosophie nun wird Kants Bruch mit Herder deutlich. In dessen mehrbändigen "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784) vertritt er eine evolutive Auffassung von der Sonderstellung des Menschen in der Tierheit. Insbesondere ist der aufrechte Gang für die Gehirngröße und die Fähigkeit zu einer Distanzierung von den Reflexen auf unmittelbare Sinneseindrücke verantwortlich. Mit der These, die Vernunft sei daher ebenso kein "angeborenes Automat", sondern in dieser Entwicklung entstanden, bezieht er eine metakritische Position, vor der Kants "Kritik der reinen Vernunft" (1781) bedroht zu sein scheint.
In seiner Antwort einer "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1785) übernimmt Kant die Baummetapher von Herder. Allerdings stellt Kant darauf ab, dass ein gerader Wuchs nicht in isolierter Freiheit geschehen wird, sondern erst in gegenseitiger Rücksicht möglich wird. (Gegen die Freiheit in der Robinsonade und für ein intersubjektives Grundverständnis hatte auch Herb anhand anderer Schriften Kants argum??????Aentiert.) Nur Druck und Zwang gegen die Faulheit könnten zu einem geraden Wuchs führen. Daher sei der Mensch das Tier, das unter seinesgleichen eines Herrn bedarf. Diese These ist derjenigen Hamanns und Herders geradezu diametral entgegen gesetzt.
Worin liegt nun aber die philosophische Grundlage für diese stark divergierende Auffassung? Die Physicotheologie als gemeinsame Basis hatte zwei Richtungen hervorgebracht. Die eine folgte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der eine naturwissenschaftliche Richtung nahe legte. In ihr gibt die Natur dem Menschen die Vernunft, um ihre Gesetze zu erkennen, wie es exemplarisch Newton und Keppler vollbracht haben. Gott erscheint so als der große Uhrmacher. Anders beurteilte die ästhetisch-hermeneutische Richtung dies, die sich auf Baruch de Spinoza (1632-1677) berief. Gott ist zwar unsichtbar und verborgen, aber als ein offenes Geheimnis dennoch jedem einzelnen bekannt.
Hamann kann so auch von einer ewigen Vernunft abstand nehmen, da sie sich nicht an der konstanten Gleichheit der Naturgesetze orientieren muss, sondern am individuellen Begreifen der Gottheit in einem hermeneutischen Verständnis festhalten kann. Durch die Zeichenbindung des Denkens muss sich das Individuum zu einem Verständnis durchringen, kann es aber nicht einmal und für immer und für alle erfassen. Demnach ist die Vernunft historisch, da sie in ihrer konkreten Sprache das Gottesgeheimnis entdecken wird. Dies wird durch semantische Hieroglyphen (so Gaier) verdeutlicht. Das Musterbeispiel ist der Satz: "Vernunft ist Sprache Λογος." Im Griechischen sind so Sprache und Logos noch ununterschieden. Die Geschichtlichkeit der Begriffe wird so unmittelbar deutlich. Demnach wird die Vernunft als Vermögen der Begriffe selbst -in Hamanns Schluss- geschichtlich. Wenn bei Johannes steht: Im Anfang war bei Gott der Logos, dann wird der Logos selbst zum Teil der Schöpfung, so dass eine Hermeneutik entsteht: Die ??????ASchöpfung ist wie im Psalm eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur. Ohne Sprache gibt es keine Vernunft, ohne Vernunft keine Religion und ohne Religion keine Gesellschaft.
Herder nun hat in seiner "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" (1772) und danach in "Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft" (1799) die Trias von Sein, Sprache und Vernunft noch weiter fokussiert. Darin finden sich insbesondere Einflüsse von Johann Heinrich Lambert (1728-1777; nicht Charles François de St. Lambert, 1716-1803). Herder sieht Raum, Zeit und Vernunft als Organe der Seins, verweist also nicht auf zwei der Erkenntnis. Damit kann er sich gegen Kants Theorie eines Prädeterminismus wenden und den Menschen als Übergang vom quantitativen, tierischen zum qualitativen Sein ansehen. Der Mensch erscheint als befreites Wesen in der Wahlfreiheit als Gleichgewicht der Kräfte der Natur. Die Bildung seiner Vernunft bringt so eine je individuelle Vernunft hervor, die sich dem systemischen Verständnis dieser ontogenetischen Entwicklung verdankt. Denn Herder will Lamberts Theorie einer Systematologie vollenden. (Verweise auf Goethes Schriften, die einer gemeinsamen Arbeit mit Herder zu dieser Zeit zuzuschreiben sind, Schellings und Hegels Werke können hier nicht erfolgen.) Die biologisch ausgeglichene Antriebsproportion beim Menschen im Gegensatz zum Tier, das in einem anschaulichen Beispiel seiner vorgestellten Nase hinterherlaufe, erlaubt die Hervorbringung von Reflexivität als Struktur und von Denken in Sprache als deren Ausfüllung.
Herder und Hamann stellen also gegen Kant in ihrer politischen Theorie jeweils verschiedene Positionen dar, was auf die Grundlagen der jeweiligen Philosophie zurückgeführt werden konnte. Inwiefern dies exklusive Alternativen sein müssen, ist in der Diskussion angezweifelt worden. Dennoch hat Kant sie als solche wahrgenommen, was sich in der Abfassung??????A u.a. seiner politischen Gedanken niederschlug. Dieser Vortrag stellte m.E. den Höhepunkt an Fruchtbarkeit der Tagung dar.
(IIb) Kant und Schiller
Entgegen den vermeintlichen Alternativen im Referat von Gaier trägt Brenner eine wirkliche Gegenposition zu Kant vor, die sich selbst als solche aufgestellt hat, nämlich den Entwurf von Friedrich von Schiller (1759-1805), Ehrenbürger von Frankreich. Neben seiner Leistung als Dichter sah sich Schiller selbst auch als Theoretiker der Ästhetik und der politischen Anthropologie, was durch seine berufliche Herkunft als Geschichtsprofessor unterstützt wurde. Entsprechend gliedert sich auch Brenners Vortrag, der den "Alleszermalmer" Kant (so Mendelssohn) gegen den "Moraltrompeter" Schiller (Nietzsche) abgrenzt. Der persönliche Kontakt zwischen beiden lässt sich auch historisch gut abgrenzen. Von seiner Lektüre der "Kritik der Urteilskraft" und der Anfrage des jungen, durch "Die Räuber" bereits einigermaßen bekannten Professor Schiller an den berühmten und etablierten Verfasser der "Kritik der reinen Vernunft", ob dieser an der Zeitschrift "Die Horen" als Rezensent mitarbeiten wolle (Brief vom 13.6.1794, Akademieausgabe Bd. XI, ab S. 506), bis zum Bruch, der sich in einer Fußnote der Religionsschrift am öffentlichsten niederschlägt, vergehen gerade gute fünf Jahre. Kant lehnte den Wunsch nach einer Mitarbeit an der Zeitschrift ab, da er zumindest für den Moment der Zensur in Religions- und Staatsthemen unterworfen sei.
Schillers Kantstudien bezogen sich insbesondere auf die Analytik des Schönen in der dritten Kritik. Dort vertritt Kant die Autonomie der Kunst, was eine relativ neue Fragestellung in der Diskussion dieser Zeit war. Kant definiert dort das Schöne, was ohne Begriff als der Form nach eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck gefällt. Das ist??????A die Harmonie in der Anschauung. Schiller nachvollzieht so auch seine eigene Abrechnung mit seiner Theorie in der Schrift zur "Schaubühne".
Das Grundproblem Schillers, die Freiheit des Menschen, hat durch diesen Einfluss von Kant neuen Aufschwung bekommen. Am Beispiel des Dramas "Wilhelm Tell" verdeutlicht Brenner dies. Zunächst sei auf die Eingangsszene an der stürmischen See hinzuweisen. Bereits hier findet sich etwas wie das Erhabene wieder. Die sittliche Überlegenheit des Menschen gegen die Natur- und letztlich gegen die Geschichtsmächte findet ihren Ausdruck. Ein zweites Moment ist die Begründung der Idee der Freiheit. Die Entfremdungsproblematik findet Schiller in Rousseaus beiden Diskursen, die die Entfremdung in der Kultur verorten. Nun meint Schiller, der Stoff könne in der Überformung eine Veredlung erfahren, was die Freiheit hervorbringen könne. Dies bringt letztlich den ästhetischen Staat hervor (dessen Realisierbarkeit für Schiller in der Forschung strittig ist). Dementsprechend verurteilt Schiller auch die Französische Revolution von 1792f, da dort der Staat nicht mehr der höchste Ausdruck der Freiheit ist, sondern seine Kinder auffrisst. (In der jüngeren Zeit wurde die Theorie des ästhetischen Staats von Herbert Marcuse wieder aufgegriffen, so Brenner. Die Kunst als Tochter der Freiheit gewinnt ihren besonderen Status in der Kultur der letzten zweihundert Jahre insbesondere durch Schillers Auffassung hier.)
Im "Tell" nun kommen mehrere Momente dieser Bewegung der Freiheit zum tragen: Im Staatsrecht (naturrechtliche Lösung), zwischen den Individuen (Kontraktualismus) und im Ethischen (neostoische Lösung, Selbstmorderlaubnis). Die Figur des Tell ist "kein guter Denker", sondern beinahe ein Naturbursche. Er lebt eine unreflektierte Einheit mit seiner Natur und nimmt nicht am Rütli-Bund teil, sondern lebt jenseits der Gesellschaft. Er ist der Mann der Tat, ??????Anicht derjenige der Rede: "Wär ich besonnen, wär ich nicht der Tell."
Schillers Theorie ist nun diejenige der Figur als Symbol. Für was steht das Symbol Tell? Er ist ein freier Mensch ohne Beschränkung, er ist der ganze Mensch. Sein Zweck als Retter wäre schon Beschränkung, so dass er eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck darstellt.
Dennoch ist Schiller mit Kant keineswegs zufrieden, sondern distanziert ebenfalls von ihm. Kant habe nur abstrakte Begriffe, wo die Wirklichkeit selbst auf der Bühne unbegreiflich spielerisch sein müsse. Kants begriffliche Grenzräume versperren die Einsicht in Verbindung von Ästhetik zur Moral, von Moral zur Politik.
Im Ergebnis diagnostiziert Brenner bei Schiller einen dogmatischen Optimismus, während hingegen Kant einen anthropologischen Pessimismus vertreten habe.
(IIc) Nietzsches Kant - "Kritik"
Nach einer Verortung des Begriffs "Kritik" bei Aristoteles und Erläuterung seines eigenen Verständnisses davon für den Vortrag, referiert Sandvoss in drei Schritten Friedrich Nietzsches (1844-1900) Verhältnis zu Kant.
Zunächst stellte Nietzsche Kant als den größten Hemmschuh der intellektuellen Redlichkeit und Rechtschaffenheit Europas heraus.
Die verschiedenen Stadien von Nietzsches Kantrezeption verweisen auf kein konsistentes Bild oder erlauben es, eine Detailanalyse der Kanttexte von Seiten Nietzsches auch nur zu unterstellen. Sein Wissen von Kant entnimmt Nietzsche vermutlich ausschließlich aus zweiter Hand, überwiegend von Arthur Schopenhauer (1788-1860) und aus der Philosophiegeschichte von Kuno Fischer. Nietzsches Urteile, Kant und Jesus seien die größten Idioten überhaupt, Kant insbesondere ein hinterlistiger Christ, hat Sandvoss auf Nietzsches radikalen und extremen Atheismus und Immoralismus zurückgeführt. Vier Momente hat Sandvoss her??????Avorgehoben: Die Herkunft Nietzsches aus einem protestantischen Elternhaus und seine Jugend in einer Frauenfamilie, der Charakter eines Supermanischen, die Begabung durch sein formales Sprachtalent und schließlich die Krankheit, die sowohl als eingebildete als auch als echte Belastung durch seine fehlgeschlagene Karriere als Hochschullehrer verstärkt wurde. Darauf fußend lasen sich fünf Hauptphasen der Kantbewertung unterschieden: Mit Schopenhauer gegen Kant, Kritik gegen Schopenhauer und gegen Kant, Kritik gegen Kant und Sokrates, Polemik gegen Kant und fünftens nur noch Beleidigungen gegen Kant. (Dies ließe sich übrigens m.E. auch für Nietzsches Sokratesbild so entwerfen, so dass es kein spezifisches Verhältnis zu Kant markiert. Die gemeinsame Ursache auszuweisen ist der Referent schuldig gewesen.) Sokrates und Kant hatten gegen den moralischen Kallikles argumentiert, dialektisch und postulatorisch. Wenn man nun, so fragt Sandvoss im Anschluss hieran, Moral als die „soziokulturellen Prämissen der Existenzfähigkeit eines Gemeinwesens" definiert, wo ist dann die Alternative von Nietzsche, die er der Kritik an Kant zur Seite stellen müsste? (Diese Frage zeugt m.E. davon, dass Sandvoss den Perspektivismus nicht hinreichend gewürdigt hat.)
Den Schluss bildete eine Gegenüberstellung der Grundmomente bei Kant und Nietzsche, wie sie Sandvoss interpretiert hat. Nietzsches These von der Gemeinschaft von Wille und Macht führe zur Identifikation von Freiheit und Macht als einen Ausdruck von imperialistischer Philosophie. Dem hält er Kants Trias von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden gegenüber. So steht bei Nietzsche Macht gegen Freiheit und Liebe bei Kant.
Dieses Referat wurde von verschiedenen Tagungsteilnehmern abgelehnt. Die Kritik bezog sich dabei insbesondere darauf, dass der Referent im Forschungs- und Quellenstand von vor 1970 stehen geblieben ist. Etwa die Briefe sind nicht zur Kenntnis genommen worden.
Sowohl am Ende des zweiten als auch am gesamten dritten Tag rückte der systematische Block ins Zentrum. (IIIa) Die geschichtsphilosophische Herausforderung in der Frage: Revolution oder Reform? stellte Prof. Dr. Gerhard Seel (Philosophie, Bern/CH) vor. (IIIb) Ob Kants demokratischer Konstitutionalismus eine Alternative zur Theorie des „Gerechten Krieges“ sein könne, hat Prof. Dr. Hauke Brunkhorst (Soziologie, Flensburg) bearbeitet. Den Abschluss der Tagung bildete (IIIc) die Thematik, dass der Kontraktualismus als Antwort auf die Gerechtigkeitsproblematik, die Prof. Dr. José Heck (Philosophie, Goiánia/Brasilien) diskutierte.
(IIIa) Revolution oder Reform - republikanische Geschichtsphilosophie
Seel begann mit der Frage, was die Alternative „Revolution oder Reform“ mit Geschichtsphilosophie zu tun habe? Bei Marx ist die Verbindung evident. Nach der missglückten Revolution von 1848 ist seine Geschichtsphilosophie durch den Begriff der Revolution imprägniert. Doch wie sieht Kant dies angesichts der Ereignisse von 1789? Seels Analyse der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ findet zunächst einen Aristotelischen Anknüpfpunkt. Allerdings gilt die Perfektionsthese bei Kant nur für die Gattung, in der der Mensch eine Schöpfung als Selbstschöpfung durch die Vernunft vollzieht. Dahinter steht eine List der Natur, deren Ziel das Recht ist. Nicht Glück oder ein Paradies, sondern Frieden ist. Denn nicht allein die Republikanisierung, sondern der Bund der Republiken ist das Ziel, ohne den der erste Schritt wertlos bleibt. Dennoch ist der Mensch von so krummem Holz, dass er ohne einen Herrn nicht wachsen kann. (Hier findet sich bereits das Problem, wie es einen Herrn ohne Würdeverlust geben könne.) Diese pessimistische Anthropologie konstituiert eine Konkurrenz als einen Entwicklungszwang. In diesem Sinne wendet sich Seel gegen Ottmanns Referat, da Kant hier zwar einen Optimismus, aber bereits mit realistischen Momenten bietet.
Die Rechtsphilosophie nun begründet die Pflicht in den Staat einzutreten und drei Gewalten herauszubilden (Legislative, Exekutive und Judikative). Demnach sind Revolutionen keinesfalls erlaubt, da der Staat sonst sein funktionales Erfordernis als einziger oberster Richter nicht mehr erfüllen kann (Souveränität). Denn dann bedürfe es eines Richters über dem Staat, der über die Rechtmäßigkeit der Revolution urteilen würde. Demnach kann es nur Reformen als Evolution geben, und zwar als Reform von oben.
Warum darf es nun im Einzelnen keine Revolution geben? Wenn die Revolution erlaubt wäre, dann müsste sie erstens im positiven Recht verankert werden. Das ist aber unmöglich, da es in einem Streit zwischen dem Oberhaupt und dem Volk einen Richter wiederum über dem Oberhaupt geben müsste. Zweitens ist das Notrechtsargument zu verwerfen (Achenwall). Denn das Notrecht ist für Kant kein Recht, da es nur ein strafbefreites Handeln ist. Denn es kann hier keine sinnvolle Strafandrohung geben. Drittens ist ebenso die Glückseligkeit (das Bonum commune) zu verwerfen als Grundlage, da das Recht nicht von der Glückseligkeit abhängt. Viertens ist es nicht möglich, den Vertrag aufzukündigen, da er kein historisches Faktum ist. Letztlich greift das Anarchieargument. Denn es gibt eine Pflicht zur Republik. Recht ist somit von der Rechtlosigkeit kategorial an Würde unterschieden. Nun aber entsteht das Problem, dass die Republik Frankreich als Folge der Revolution entstanden ist, so dass sie gegenüber ihrer Vorgängerin Würde hätte.
Was wäre nun aber mit dem Fall, den Kant nicht thematisiert hat, so fragt Seel, wenn der Despot selbst die Rechtsordnung als eine Willkür ohne Gesetze aufkündigt? Denn der Bürger behält entgegen Hobbes auch im Staat noch Rechte (so in „Über den Gemeinspruch…“, 1793). Nun aber ist ein Recht in der „Metaphysik der Sitten“ (1797) als eine Befugnis, zwingen zu dürfen, definiert. Also hat das Volk ein Zwangsrecht gegenüber dem Souverän, also ein Revolutionsrecht. damit entsteht ein Dilemma.
Eine weitere Verschärfung ergibt das biographische Zeugnis, dass Kant sich nicht von der Schrift seines Schülers Erhardt „Über das Recht des Volkes zur Revolution“ (1794) distanziert hat. Dort benennt Erhardt zwei Kriterien: Das Ziel der Verhinderung gravierender Menschenrechtsverletzungen auf der obersten Ebene, sowie gute aussichten auf Erfolg, einen Rechtszustand zu etablieren.
Das Referat von Seel war sicherlich dasjenige, was am meisten Reaktionen evozierte. Die beeindruckende Klarheit der Problemlage war für alle Diskussionsteilnehmer eine anregende Herausforderung.
(IIIb) Gerechtigkeit als Vereinbarung - Kant und der moderne Kontraktualismus
Brunkhorst greift die Frage auf, ob es nach der Antike und 1789 nun nach 1989 zu einer dritten, postmodernen Welle der Demokratisierung kommen könne, die keinen Weltstaat, aber eine weltumfassende Staatform begründet. Die Empirie deutet zumindest nominell auf eine solche Entwicklung hin.
In einem ersten Kantischen Schritt verweist Brunkhorst auf Michael Walzers Theorie, dass an die Stelle eines legalen Formalismus des Völkerrechts (die Verrechtlichung der Politik) nun eine ethische Selbstbindung getreten ist (Moralisierung der Politik). Damit wären die internationalen Beziehungen nicht konstitutionalisierbar, sondern bleiben gebunden an den Staat. Damit wäre Kants Projekt eines ewigen Friedens unmöglich geworden.
Kants Argumentation gegen den Krieg geht folgendermaßen: Krieg kann niemals universalisierbar sein, so dass er ein absolutes Übel darstellt. Kein Krieg heißt also kein Krieg. Selbst der Verteidigungskrieg ist bereits nicht verallgemeinerbar, da keiner über sich in dieser Weise richten kann. Nun aber kann etwas rechtlich erlaubt, wenn es auch moralisch verboten ist. Etwa die Besitznahme im Urzustand, die Herrschaft ohne Volkslegitimation oder revolutionäre Gewalt. Es scheint Umstände zu geben, die eine Erlaubnis ermöglichen. Derartige Bedingungen könnten auch für den Krieg gelten. (In der Diskussion ist dieser Punkt scharf angegriffen worden; m.E. ist dieser Argumentationsschritt widerlegt worden.) Drittens sind diese Bedingungen zu benennen. Weder Carl Schmitts „Nomos der Erde“ als Hegung der Kriege, noch jede derartige Form, die Max Horkheimer als die „Welt als Beute“ bezeichnete, taugen dazu. Stattdessen ist ein legalistisches Verständnis der Bürger als Unterworfene einzunehmen. Es geht darum, Verfassung „als System von Organisationsnormen für die öffentliche Ausübung individueller Autonomie“ zu verstehen. Im Naturzustand wird schließlich nicht nur der potentielle Krieg aller gegen alle, sondern auch das allgemeine Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit grundgelegt. Der Naturzustand zwischen den Staaten müsste entsprechend nicht in einen Weltstaat, sondern in eine Konstitutionalisierung überführt werden. Kant identifiziert nämlich den Staat als bürgerliche Gesellschaft als formaler Rechtszustand. Der Staat ist der Inbegriff des Rechts, die Verfassung der Inbegriff der Bürgergesellschaft. Damit unterscheidet er zwischen der Idee des Staates und der Idee der Verfassung dergestalt, dass die Verfassung als Lösungskonzeption auch für Verhältnisse zwischen Staaten anwendbar wird. Damit wären Kriege nur noch als legale Kriege der internationalen Gesellschaft denkbar, nämlich als Polizeiaktionen. Die Analogie zwischen dem provisorischen Rechtszustand des Privatrechts und dem peremtorischen des Verfassungsstaats, ließe sich so verlängern, dass nun die internationalen Polizeiaktionen als provisorische Lösung einer Konstitutionalisierung dienen, was ein ewiger Friede würde. Das Anschlussproblem ist natürlich die Frage nach einer demokratischen Legitimation dieser Verfassung, insofern sie positives Recht tragen soll. Es ginge darum, eine Verfassung der Gesellschaft zu installieren.
Eine zweite Annäherungssphäre betrachtet mit Niklas Luhmann (1927-1998) das funktionale Verfassungsverständnis. Die strukturelle Kopplung von Recht und Herrschaftslegitimation funktioniert in der gegenwärtigen Situation bereits für die Nationalstaaten nicht mehr. Es gibt eine neue (vertikale) Gewaltenteilung zwischen Staaten und supra- bzw. supernationalen Organisationen wie UNO, EU oder WTO. Die Lösung bestünde für Brunkhorst darin, die Idee des Staats gegenüber der Idee der Verfassung zurückzustellen, wie man es bei Kant finden kann. Dadurch ergäbe sich eine (subsidiäre) Einordnung des Staats zur Durchführung von „Polizeyaktionen“. Das wäre ein inklusives Verständnis der Rule of Law.
Die Legitimation einer derartigen Transformation ist für Brunkhorst durch folgendes Paradox als eine Evolution bestimmt, die keine Revolution sein soll: Einerseits führt die globale Gefährdung der Demokratie zu hegemonialen Zügen der Außenpolitik, andererseits bestätigt die globale Rechtsnormierung das Prinzip der rechtlichen Egalität.
(IIIc) Demokratischer Konstitutionalismus - eine kantische Alternative zum "Gerechten Krieg"
Als Tagungsabschluss stellt Henk die Frage, ob Staaten überhaupt gerecht sein können. Dabei will er natürlich nicht einfach auf eine materiale Antwort hinaus, sondern fragt: Kann die Kategorie gerecht vs. ungerecht für Staaten adäquat sein?
Gerechtigkeit in der politischen Philosophie ist ein normatives Erbe, vielleicht sogar eine überholte Auslagerung, deren Wurzel bei Platon darin besteht, dass die Isomorphie zwischen Seele und Polis darauf verweist, dass das Recht nach der Gerechtigkeit fragt.
Ein jeder, so Platon in seiner „Politeia“, steht unter dem sozialen Anspruch des Anscheins der Gerechtigkeit. Das nivelliert und verwischt den Unterschied von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Auch der Schein der Gerechtigkeit durch die Ungerechtigkeit eines jeden einzelnen ist keine Antwort. Denn die Gerechtigkeit des einzelnen besteht in den Maximen der Tugend. Die höchste Gerechtigkeit besteht darin, trotz des Scheins der Ungerechtigkeit gerecht zu sein (ein Schaf im Wolfspelz der öffentlichen Meinung). Insgesamt ist Ungerechtigkeit als Selbststand unmöglich, sie kann sich immer nur auf Kosten von Gerechtigkeit erhalten: „Ein Zug von lauter Trittbrettfahrern kann nicht fahren.“ Daher werden die Jugendlichen auch zur Gerechtigkeit erzogen; nicht weil die Bürger vollkommen gerecht wären, sondern weil sie selbst das Maß ist. Auch wenn Gerechtigkeit inhaltlich ein Geheimnis sein soll, ist sie doch ein „epistemologische Juwel“.
Hobbes nun als Begründer des modernen Kontraktualismus fragt anders als Platon danach, wie Souveränität konstituiert wird. Dies geschieht gerade nicht durch Gerechtigkeit, sondern ohne sie. Es ist ein Akt der Klugheit.
Kant nun steht zwischen diesen beiden Extrempositionen. In seinem Vertrag hat das Recht eine kriteriologische Funktion. Diese dient nicht dazu, das Gemeinwohl zu befördern, sondern einen Machtapparat der austeilenden Gerechtigkeit zu steuern.
Kants Grundbegriff ist das Recht, derjenige von Hobbes die Selbsterhaltung. Nicht Kants Rechtsvernunft, sondern das Ius naturale prästabiliert den Austritt aus dem Naturzustand. Die Natur ist bei Kant ein moralischer Begriff, kein empirischer Ansatz, so dass der Übergang in den bürgerlichen Zustand eine Pflicht ist. Bei Hobbes hingegen ist die Natur die Gesamtheit menschlichen Handelns, weshalb ein Verweilen schlichtweg unklug ist. Kants Vertrag ist der Probierstein des Staats, der Vertrag bei Hobbes ist der Inbegriff aller Zwangsrechte.
Das Problem hierzu ist die Frage, ob dieses kriteriologische Konzept als ein Gedankenexperiment überhaupt Realität haben könne. Das moralepistemologische Kriterium, als universalistisches Rechtfertigungsprinzip des positiven Rechts verstanden, sagt nicht nur: Ich hätte dem zustimmen können, sondern dass jeder als Gesetzgeber angesehen können werden muss. Nach Reinhard Brandt stellt der Ethiker Kant die Frage: Was soll ich tun? Ich soll der Glückseligkeit würdig sein als eine austeilende Gerechtigkeit Gottes. Das Recht fragt demnach analog nach der austeilenden Gerechtigkeit des Staates. Damit soll nicht Gott in die Politik geholt werden, sondern Gerechtigkeit als Grundbegriff der kriteriologischen Rechtsphilosophie ausgewiesen werden.