50 Prozent der weltweit etwa 6700 gesprochenen Sprachen sind aktuell vom Verschwinden bedroht. Wie gefährlich ist das Schwinden der Sprachen und Dialekte in Hinblick auf kulturelles Zusammenleben und auf kulturelle Identität?
Es ist extrem gefährlich. Sprache und Kultur sind untrennbar miteinander verflochten. Eine tolle Metapher für diese Verflechtung hat Wilhelm von Humboldt geprägt. Sinngemäß erklärt er, dass wir uns durch denselben Akt, durch den wir die Sprache aus uns herausspinnen, auch in sie einspinnen. Das heißt eine bestimmte Sprache legt auch eine bestimmte Weltsicht nahe, die wiederum eine bestimmte Sprache prägt. Treffend drückt dies auch Ludwig Wittgenstein mit seiner bekannten Aussage, die Grenzen meiner Sprache seien die Grenzen meiner Welt, aus. Wenn wir keine Möglichkeit der „Grenzüberschreitung“ mehr haben, bricht uns eine wichtige Voraussetzung für andere Wahrnehmungen und neues Denken weg.
Warum?
Unsere Kultur- und Identitätsentwicklung braucht die Auseinandersetzung mit Fremdem. Mit dem Schwinden der Sprachen vollzieht sich zunehmend auch ein Kulturverlust, der massive Auswirkungen für ein wichtiges Erbe der Menschheit hat. Besonders deutlich hat dies die UNESCO-Erklärung zur kulturellen Vielfalt von 2001 auf den Punkt gebracht. Da heißt es in Artikel 1, als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität ist kulturelle Vielfalt für die Menschheit ebenso wichtig, wie die biologische Vielfalt für die Natur.
Darüber hinaus ist die Sprache auch existenziell wichtig für unser Selbstverständnis und unser kulturelles Zusammenleben. Hier kann ich gut anknüpfen an Humboldts Bild vom Herausspinnen der bzw. dem Einspinnen in Sprache. Denn auch Friedrich Nietzsche bedient sich der Metapher eines fragilen Netzes, auf dem wir unser Leben gründen.
Inwiefern?
Nietzsche meint, man müsse den Menschen wohl als ein gewaltiges Baugenie bewundern, der es vermag, auf beweglichen Fundamenten und auf fließendem Wasser einen unendlich komplizieren „Begriffsdom“ zu errichten. Dann fährt er fort, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, müsse es ein Bau wie aus Spinnefäden sein – zart und fest zugleich. Anders als beispielsweise eine Biene, die sich ihre Baumaterialien aus der Natur zusammenholt, muss sie der Mensch aus dem weit zarteren Stoff der Begriffe erst aus sich selbst heraus fabrizieren. Wenn dieses sprachliche Gewebe Risse und Löcher bekommt, werden wir unsicher, wir können uns nicht mehr unbeschwert und frei bewegen. Das merkt man schnell, wenn man in eine Gegend kommt, in der Menschen eine Sprache sprechen, die wir nicht verstehen.
Haben Sie eigene Erfahrungen in Ihrer Forschung und Arbeit zu dem Thema sammeln können?
Ja, sehr viele. In gewisser Weise war der Sprachverlust zentral für meine Forschung unter First Nations und Inuit in Kanada. Hier wurde mir auf sehr drastische Weise vor Augen geführt, was Wittgenstein meint, wenn er schreibt „Und sich eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“. Das eindrücklichste Beispiel dafür habe ich selbst erlebt, als ich mit einer Gruppe Jugendlicher und einem Ältesten bei eisigen Minusgraden mit Skidoo und Schlitten über den noch nicht ganz zugefrorenen arktischen Ozean zum „Winterfishing“ fuhr. In Inuktitut gibt bzw. gab es unzählige Worte für Schnee, die im wahrsten Wortsinn grundlegend sind, damit man sich auf dem Eis fortbewegen kann, ohne sich dabei in Lebensgefahr zu begeben. Nach der Zwangsassimilierung der kanadischen Ureinwohner durch Internate, in denen die Kinder ihre Ursprachen nicht mehr sprechen durften, können viele nur noch Englisch – geblieben ist das Wort „snow“, was dazu führt, dass eine Lebensform kaum noch praktiziert werden kann. Das Herzstück des kulturellen Bedeutungsgewebes der Inuit, ein Leben auf dem Land und von der Jagd, ging damit weitgehend verloren, die Menschen fielen in ein existenzielles Vakuum, was sich an der hohen Selbstmordrate, gerade unter Jugendlichen, an Alkoholismus, Drogenkonsum und massiver häuslicher Gewalt zeigt. Mit der Sprache ist ein Gefühl von Zugehörigkeit, kultureller Verortung, Heimat und auch Geborgenheit verbunden, wenn sie wegbricht, verlieren wir ein großes Stück von uns selbst.
Einen Dialekt zu sprechen und somit mehrsprachig aufzuwachsen wirkt sich auch positiv auf die kognitive Entwicklung von Kindern aus. Gibt es eine genuin philosophische Dimension des Dialektalen? Inwiefern ist es eine interessante philosophische Thematik?
In seiner Sprachphilosophie legt Wilhelm von Humboldt dar, dass die Sprache „Organ unseres Denkens“ sei. Denken und Sprache sind eng miteinander verflochten. Das drückt sich auch im Dialekt aus. Ein befreundeter Kollege, der als Schwabe intensiv zu Hegel gearbeitet hat, meinte einmal, manche Begriffe und Denkfiguren Hegels ließen sich eigentlich nur wirklich gut verstehen, wenn man selbst Schwäbisch spricht und im Schwäbischen großgeworden ist. Die Mundart prägt das Selbstverständnis, eine „natürliche Welteinstellung“, um einen Begriff Husserls zu bemühen. So drückt sich eine zentrale schwäbische Grundeinstellung in der Redewendung „So isch no au wieder“ aus. Diese findet sich in Hegels Dialektik, im Sowohl-als-auch, beim Zusammendenken der Gegensätze in der Aufhebung, wieder. Dass Hegel mit seiner nuscheligen schwäbischen Mundart aber auch oft schwer zu verstehen war, belegen zahlreiche Berichte seiner Studierenden. Hier zeigt sich, dass der Dialekt auch zu einem kommunikativen Problem werden kann, wenn sich der oder die Sprecher*in nicht bemüht, auch von Menschen jenseits der eigenen „Sprachgrenze“ verstanden zu werden.
Interessant ist es vielleicht zu erwähnen, dass besagter Freund seit vielen Jahrzehnten in Kanada lebt und zu Hegel auf Englisch seinen PhD gemacht hat. Dabei wurde ihm auf besonders intensive Weise seine heimatliche Verbundenheit zum Dialekt deutlich – er kultiviert diese seither bewusst, sodass man selbst im Englischen das Schwäbeln deutlich durchhört…
Was kann gegen das Schwinden der Sprachen getan werden?
Ich bin seit einigen Jahren in engem Kontakt mit dem Opaskwayak Cree Ältesten Stan Wilson. Wir philosophieren miteinander und verbringen viel Zeit damit, dass er mir Konzepte wie beispielsweise wahkohtowin, auf Englisch vielleicht am besten durch die Wendung „all my relations“ ausgedrückt, näherbringt. Dabei handelt es sich um eine besondere Philosophie der Beziehung. Immer begleitet uns das Ringen um die Sprache. Es gibt mittlerweile allerorts in Kanada Unterricht in indigenen Sprachen. Stan erzählt aber, dass die Sprachen vor allem technisch unterrichtet werden, weil viel von der Lebensform mittlerweile verloren gegangen ist. Eigentlich müssten die Sprachen „auf dem Land“ beim gemeinsamen Praktizieren traditioneller Tätigkeiten und im direkten Vollzug gelernt werden. Sonst bleiben nur Worthülsen auf einer sehr „dünnen“ Ebene, die mit dem „dichten“ Bedeutungsreichtum einer gelebten Sprache nicht viel zu tun haben.
Ich finde es auch wichtig, sich in der Wissenschaft für die Mehrsprachigkeit einzusetzen. Gerade im Bereich der interkulturellen Philosophie ist es unerlässlich, sich nicht nur im Englischen zu treffen, sondern sich zudem die Mühe zu machen, der Vielfalt der menschlichen Ausdrucksformen Rechnung zu tragen. Die Auseinandersetzung mit einer anderen Sprache zeigt uns auch die Grenzen unserer eigenen. Vielleicht hat es etwas mit einem Erwachsenwerden zu tun, wenn wir es wagen, den Rockzipfel unserer „Muttersprache“ zu verlassen – sicherlich aber mit einem Wachstum, das wichtig ist, um den Herausforderungen einer globalisierten Welt mit dem Erfahrungsschatz möglichst aller Kulturen begegnen zu können. Dementsprechend muss einen die wachsende Dominanz des Englischen in der Philosophie nachdenklich stimmen, denn sie fördert eine monokulturelle Weltsicht, in der wir blind werden für viele Weltdeutungen, die sich im Englischen nicht ausdrücken lasen.
Haben Sie selbst eine liebste Redensart oder ein liebstes Sprichwort aus einem deutschen Dialekt?
Mh, da fällt mir gerade nichts Bestimmtes ein. Was mich bedrückt ist, dass Redeweisen wie „Mia san Mia“ als Bollwerk gegen alles Fremde eingesetzt wird. Hier führt die Angst vor „Überfremdung“ dazu, dass das „bewegliche Fundament“ der Sprache fundamentalistisch gegen andere aufgerichtet wird.
Aber es gibt durchaus Begriffe oder auch Wortschöpfungen, die mich eng an meine Familie binden und mir eine wichtige Basis liefern, um mich in fremde Sprachwelten zu wagen. Ich liebe die Mehrdeutigkeit von Begriffen und spiele gern mit Wortbedeutungen, z.B. der steckt im Begriff der „Auseinandersetzung“ die große Herausforderung des Sich-auseinandergesetzt-fühlens, wenn jemand meine eigene Vorstellung in Frage stellt. Dabei werde ich aus dem, was mir bekannt ist, heraus-gefordert…
Barbara Schellhammer studierte zunächst Soziale Arbeit in München, bevor sie 2009 an der HFPH in Philosophie promoviert und 2018 an der Universität Hildesheim habilitiert wurde. Ab 2009 lehrte sie als Professorin für Interkulturelle Soziale Arbeit an der Internationalen CVJM-Hochschule Kassel und wechselte 2013 als Dozentin an die HFPH. Von 2005 bis 2015 lehrte sie zudem an der Royal Roads University in Kanada. Arbeits- und Forschungsaufenthalte führten sie neben Kanada, wo sie insbesondere zu Kulturverlust bei den Inuit forschte, auch nach Togo, Kenia und in den Irak. Seit Herbst 2019 hat sie als erste Professorin an der Hochschule für Philosophie den Lehrstuhl für Intercultural Social Transformation inne und leitet das Zentrum für Globale Fragen (ZGF).
Weiterführende Links:
"So isch no au wieder" - ZEIT Artikel über Georg Wilhelm Friedrich Hegel und das Schwäbische
UNESCO-Erklärung zur kulturellen Vielfalt (auf Deutsch)
"Hinter den Verben muss die Freiheit wohl grenzenlos sein" - FAZ Artikel über Rolf Elberfeld und „Sprache und Sprachen“