Philosophisches Denken kann praktisch wirksam werden – Stipendiatin Sarah Neukirchen über das Abschlusstreffen des Global Citizenship Fellows Program in Boston

Der krönende Abschluss des Global Citizenship Fellows Program, welches im Oktober 2021 startete, steht kurz bevor: ein Treffen aller internationalen Teilnehmer*innen am Boston College im Rahmen der IAJU Assembly 2022. Von 03. bis 06. August 2022 werden Studierende von insgesamt 19 jesuitischen Hochschulen aus aller Welt ihre Erkenntnisse aus dem Projekt in gemeinsamen Diskussionen bündeln und ihre Ergebnisse mit den anderen Teilnehmer*innen des Treffens der International Association of Jesuit Universities (IAJU) teilen.

Sarah Neukirchen, Copyright: privat

Worum geht es in dem Projekt?
Das Global Citizenship Fellows Program wurde von der IAJU als Reaktion auf den Aufruf von Papst Franziskus nach globaler Solidarität und mehr gesellschaftlichem Einsatz für das Gemeinwohl ins Leben gerufen. Zusammen mit dem Berkley Center for Religion, Peace, and World Affairs an der Georgetown University, Washington D.C., hat die IAJU ein einjähriges Stipendium für Studierende von jesuitischen Hochschulen auf der ganzen Welt vergeben, um sich international zu vernetzen und voneinander zu lernen. Die Teilnehmer*innen des Projekts untersuchen gemeinsam, was es bedeutet, ein/e Weltbürger*in zu sein und wie man es gemeinsam schaffen kann, die globale Solidarität zu stärken. Nach monatlichen virtuellen Treffen und Diskussionen mündet das Programm nun in einem gemeinsamen Abschlusstreffen in Boston.

Auch Sarah Neukirchen und Leo König, Studierende der Hochschule für Philosophie München (HFPH), sind als Stipendiat*innen des Programms in Boston dabei und werden ihre Ideen und Perspektiven mit einbringen. Nach einem ersten Zwischenstand des Projekts von Leo König, haben wir nun mit Sarah Neukirchen über den bisherigen Verlauf des Projekts und ihre Erwartungen an das Abschlusstreffen in Boston gesprochen.

Sarah ist mittlerweile im sechsten Semester des Bachelors Philosophie an der HFPH. Vom zweiten bis zum vierten Semester hat sie das Amt der Studierendenvertretung ausgeführt, einmal als Haupt- und einmal als Nebenvertretung. Seit Beginn dieses Jahres ist sie Stipendiatin der Deutschen Studienstiftung.

Die folgenden Antworten von Sarah Neukirchen sind persönliche Meinungsäußerungen aus ihrer individuellen Perspektive.

Das Projekt läuft seit Oktober 2021. Mit welchen Themen und Fragestellungen haben Sie sich in dieser Zeit bis jetzt auseinandergesetzt?

Die Überthemen waren: Die Idee und Praxis von Global Citizenship; Transnationale Bewegungen, Frieden und Globale Regierung; Armut, Ungleichheit und praktizierte Solidarität; der Dienst des Glaubens und die Förderung der Gerechtigkeit; Global Citizenship und Bewahrung unseres gemeinsamen Zuhauses; Global Citizenship und die Kultur der Begegnung.

Als Vorbereitung auf die monatlichen Sitzungen wurden uns immer mehrere Texte – viele davon Reden – zu dem jeweiligen Thema zur Verfügung gestellt.

Zu jedem Thema gab es zwei Diskussionsfragen, zum Beispiel inwieweit der Kampf gegen globale Armut eine persönliche und inwieweit eine politische Aufgabe ist oder wie religiöse Gemeinschaften zum Kampf für Gerechtigkeit beitragen können.

 

Welches dieser Themen hat Sie besonders bewegt/ welches fanden Sie besonders spannend?

In der letzten Sitzung erörterten wir, ob ein Menschenrechtskonsens für effektives Global Citizenship notwendig ist. Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam war Teil der Vorbereitungsmaterialien für das erste Online-Treffen. In diesem ging es erstmal darum, wie wir Global Citizenship verstehen und definieren. Hier stellte ich mir bereits die Frage zum Konsens und war froh, dass wir uns in der letzten Sitzung zur „Culture of Encounter“ ausführlicher dazu austauschen konnten.

Aus vielen unserer Diskussionen ergab sich außerdem die Frage nach individueller Verantwortung im Spannungsverhältnis zur politischen und wirtschaftlichen Verantwortung. Das ist ein Thema, das jede*n betrifft und einen großen Einfluss auf unsere kollektive Zukunft haben wird. Deshalb lohnt es sich, sich damit zu befassen und sich dazu zu positionieren.

Sehr wichtig fand ich auch das Thema der vorletzten Sitzung: Klimawandel im Kontext Global Citizenship. Umweltschutz und das damit einhergehende Thema Tierrecht, halte ich grundsätzlich und besonders aktuell für unvermeidbar wichtig. Ich freue mich darauf, mich in Boston tiefer mit den anderen Teilnehmer*innen darüber auszutauschen.

 

Gibt es bereits erste Schlüsse oder Forderungen, die Sie aus der bisherigen Projektarbeit ableiten können?

Nein, denn ich versuche in diesem Kontext explizit erst einmal in den Diskurs zu gehen und zu lernen. Tatsächlich suche ich aber in meinem Alltag automatisch immer danach, wie wir vom Philosophieren in die Praxis gehen können, ich hoffe also sehr darauf, diese Frage nach dem Treffen in Boston beantworten zu können.

 

Welche Perspektive/ welche Punkte möchten Sie bei dem internationalen Abschlusstreffen in Boston einbringen/ hervorheben?

Nicht-menschliche Tiere werden in jedem Aspekt des menschlichen Lebens vernachlässigt und unterdrückt. Zu Global Citizenship gehört für mich eine Solidarität mit allen Tieren. Nicht nur denen, die wir süß finden oder denen, die aussehen wie wir. Mit den domestizierten zum Beispiel, die wir für unseren Genuss nutzen und schlachten. Oder mit den freien, deren Heimat wir für unseren Genuss zerstören. Deshalb werde ich in vielen Debatten, allen voran jenen zum Umweltschutz, für Tierrechte plädieren.

 

Was erwarten Sie sich von der Konferenz in Boston?

Ich erwarte einen regen Austausch, aus dem ich auf mehreren Ebenen viel lernen kann und die Möglichkeit, meine wichtigsten Punkte an den Menschen zu bringen. Ich hoffe außerdem auf zielgerichtete Debatten, um erste Forderungen und Leitfäden für die Praxis zu erarbeiten. Zunächst freue ich mich aber einfach darauf, all die sympathischen Leute aus den Zoom-Kacheln „in echt“ zu sehen und auf die netten Begegnungen, die mich zweifelsohne erwarten.

 

Die internationale Vernetzung spielt für das Ziel des Projekts, eine globale Solidarität zu erreichen, eine besondere Rolle. Wie können wir es Ihrer Meinung nach schaffen, diesen gemeinschaftlichen Ansatz zu stärken?

Man könnte Programme wie dieses vermehrt und zu so vielen Themen wie möglich online anbieten.

Kommunikationskonzepte wie die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) ließen uns internationalen Austausch auf ein zielorientiertes Verfolgen der gemeinsamen Bedürfnisse fokussieren.

Unter dem gegenwärtigen System werden Ausdrücke wie globale Solidarität jedoch immer einen fahlen Beigeschmack haben. Der kapitalistische Konkurrenzkampf belohnt die Ausbeutung vieler Länder für den Profit einzelner und verhindert so den Aufbau von nachhaltig und tiefgehend gerechten Zuständen. Uns auf individueller Ebene auf unsere Empathie zu berufen und mit Fokus auf unsere Verbundenheit mit allen Menschen zu handeln, ist unerlässlich. Doch frage ich mich, ob das aktuelle wirtschaftliche System nicht inhärent jeder unserer Bemühungen entgegenwirkt.

Gerade die Länder des globalen Südens leiden disproportional unter den Folgen unserer Landwirtschaft, seien es Artensterben, Hunger durch inneffiziente Ressourcennutzung, Brandrodung oder Klimawandel u.v.a. Opfer sind hierbei auch unzählige nicht-menschliche Tiere. 

Grundlange für einen Austausch der einzelnen Länder auf Augenhöhe wären ernsthafte Bemühungen den Klimawandel aufzuhalten, wie durch die Etablierung eines pflanzenbasierten Ernährungssystems.
Darüber hinaus brauchen wir bessere Hilfskonzepte für Geflüchtete und sollten natürlich bestenfalls keine Waffen mehr an die Menschen verkaufen, die Fluchtbewegungen verursachen.

 

Was ist Ihre persönliche Motivation, sich an diesem Projekt zu beteiligen und sich für mehr globale Solidarität einzusetzen?

Es ist unverzichtbar, unsere Einstellung von Konkurrenz zu Kooperation zu ändern. Die folgenschwersten Probleme unserer Zeit sind globale und sollten mit der gesamten globalen Bevölkerung im Hinterkopf gelöst werden.

Deutschland wurde nicht im luftleeren Raum eines der wirtschaftsstärksten Länder. Hinter dem Wohlstand, den ich als deutsche Staatsbürgerin genieße, steht mindestens globale Zusammenarbeit, in vielen Fällen aber auch Ausbeutung und Übervorteilung der Bürger*innen wirtschaftsschwächerer Länder. Diese Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auszugleichen ist unsere Verantwortung (verpasste Möglichkeit: Freigabe der Impfstoff-Patente).

Wir haben nur eine Welt und sie gehört nicht den westlichen oder reichen Nationen. Unsere kompetitive Einstellung führt zu einer Zerstörung unserer Lebensgrundlage. Dabei schaden wir nicht nur Menschen, sondern auch nicht-menschlichen Tieren. Ich denke hier sowohl an die unzähligen aussterbenden Arten, als auch an die unzähligen Landtiere, die wir jährlich unnötigerweise ausnutzen und schlachten. Für die Futtermittel roden wir unbegreiflich große Flächen an Urwald. Wir wissen hierbei nicht mal, was wir zerstören, darunter eine unermessliche Anzahl nicht identifizierter Spezies. Hier vernichten einige Länder aus Gier unwiderruflich Ressourcen, auf die sie kein Alleinrecht haben. Die Folgen bekommen wieder als erstes die ärmsten Länder zu spüren, nicht die Verursacher*innen.

Die Bestrebung dieses Projekts, globale Solidarität zu stärken, bringt einen Hoffnungsschimmer in eine zermürbende Gesamtsituation.

 

Was nehmen Sie für sich und ihre Zukunft mit aus den Erfahrungen, die Sie bei diesem Projekt gesammelt haben?

Ich habe ein größeres Bewusstsein von der Vielfalt der Perspektiven, die es weltweit gibt. Gleichzeitig wurde mir stärker vor Augen geführt, was wir alle gemeinsam haben.

Dieses Bewusstsein hat mir vergegenwärtigt, dass es, um globale Herausforderungen anzugehen und sie überhaupt zu verstehen, unbedingt erforderlich ist, verschiedene Perspektiven heranzuziehen. In der Zukunft möchte ich aktiv nach Sichtweisen suchen, die von meinen abweichen.

 

Hier mehr über das Global Citizenship Fellows Program der IAJU erfahren.