Der Bonner Philosoph Markus Gabriel hat mit seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ 2013 einen echten Bestseller gelandet. Sie haben sich in Ihrer Forschung u.a. mit Gabriels provokanten Thesen auseinandergesetzt. Was ist Gabriels These „in a nutshell“ und welche Kritik muss man an ihr üben?
Markus Gabriels Grundidee ist, dass ein Objekt nicht existiert, weil es eine Eigenschaft namens „Existenz“ hat. Vielmehr existiert ein Objekt, weil es in einer Beziehung zu etwas anderem steht, nämlich einem Gegenstandsbereich, den er Sinnfeld nennt und der wiederum selbst als ein Objekt in einem weiteren Sinnfeld existiert. Zum Beispiel existieren Stühle im Sinnfeld namens „Hochschulgebäude“ und dieses Sinnfeld existiert als Objekt seinerseits im Sinnfeld der raumzeitlichen Gegend, die „München“ genannt wird. Existenz ist also immer „existieren in etwas anderem“ und besteht darin, dass ein Sinnfeld die Eigenschaft hat, dass ein Objekt in ihm enthalten ist. Also, in a nutshell: Laut Gabriel heißt zu existieren in einem Sinnfeld zu „erscheinen“.
Ich möchte nur kurz zwei Probleme dieser Sichtweise anreißen. Erstens muss Gabriel – um auch nur die Existenz einer Kaffeetasse erklären zu können – postulieren, dass eine ins unendliche sich fortsetzende Kette von Objekten bzw. Sinnfeldern existiert. Zweitens beraubt ein solch unendliches Zurückgreifen auf andere Sinnfelder (infiniter Regress) Gabriels Sichtweise auch ihrer Erklärkraft, denn die Erklärung dafür, warum ein Objekt existiert kommt nie an ein Ende. Immer wieder müssen neue Objekte/Sinnfelder eingeführt werden, deren Existenz wiederum durch die Einführung weiterer Objekte/Sinnfelder erklärt werden muss usw.
In Ihrer Habilitationsschrift haben Sie zu einer der abstraktesten Fragen der Philosophie geforscht – zur Frage danach, was „Existenz“ bedeuten soll. Wenn Sie eine/n unserer Leser*innen auf der Straße treffen würden, wie würden Sie Ihre Forschungen erklären?
In meiner Forschung versuche ich darzulegen, dass unser alltägliches Sprechen über Existenz und viele unserer alltäglichen nicht-thematisierten Hintergrundüberzeugungen zu Existenz und Nicht-Existenz sinnvoll sind. Zum Beispiel würden Sie mir sehr wahrscheinlich darin zustimmen, dass es wahr ist, dass Papst Franziskus existiert. Dies scheint nicht besonders aufregend und interessant. Interessanter wird es, wenn ich Sie frage, ob Harry Potter existiert. Vielleicht verneinen Sie diese Frage direkt, vielleicht denken Sie aber auch, dass Harry Potter ja doch auch irgendwie existiert. In letzterem Fall würde ich meine Frage präzisieren: Existiert Harry Potter in demselben Sinne wie Papst Franziskus, oder Sie und ich? Ich bin mir sicher, dass es Ihnen leichter fällt auf diese Frage zu antworten und dass Sie diese Frage verneinen. Dies zeigt, dass wir intuitiv und oft unthematisiert davon überzeugt sind, dass nicht alle Dinge in demselben Sinne existieren und dass es einen Kontrast zwischen Objekten gibt, die „wirklich“ existieren und Objekten, die „nicht wirklich“ existieren, sondern bestenfalls in einem qualifizierten Sinne. Papst Franziskus existiert wirklich. Harry Potter nicht bzw. er existiert höchstens in einem qualifizierten Sinn (z.B. in einem geistabhängigen Sinne).
Aber wodurch unterscheiden sich die wirklich existierenden Objekte von den Objekten, die nicht bzw. nur in einem qualifizierten Sinn existieren? Es scheint, dass die wirklich existierenden Objekte etwas haben müssen, was den nicht-existierenden oder nur in einem qualifizierten Sinne existierenden Objekten fehlt. Wie lässt sich das aber denken? Ist Existenz bzw. Aktualität eine Eigenschaft von wirklich existierenden Objekten? Und wenn diese wirklich existierenden Objekte Existenz haben, aber Existenz keine Eigenschaft dieser Objekte ist, wie lässt sich dann dieses „Haben“ von Existenz verstehen? Wie verhält sich etwas Seiendes zu seinem Sein? In meiner Forschung gehe ich derartigen Fragen nach und setzte mich kritisch mit möglichen Antwortversuchen auseinander, die implizieren, dass unser alltägliches Sprechen über Existenz und unsere alltäglichen Hintergrundüberzeugungen zu Existenz nicht sinnvoll sind und grundlegend revidiert werden müssen.
In den vergangenen Jahren haben Sie Forschungsaufenthalte an der Saint Louis University im amerikanischen Missouri verbracht, mit der die Hochschule eine Kooperation unterhält. Lassen Sie uns an Ihren Erfahrungen aus diesen Aufenthalten teilhaben.
Ich bin in vielerlei Hinsicht sehr dankbar für diese Zeit. Ich habe während dieser Aufenthalte unglaublich viel gelernt über das Denken von Thomas von Aquin und sein Verständnis von Existenz, Dank eines engen Austauschs mit Prof. Eleonore Stump, die eine wunderbare Gastgeberin war. In meinem ersten Aufenthalt fiel die Wahl von Donald Trump. Es war spannend, dieses Ereignis von „innen“ heraus zu erleben und mich mit vielen Einheimischen darüber zu unterhalten. Während meines zweiten Aufenthalts durfte ich an dem Abschluss eines Prozesses teilnehmen, in dem es um das jesuitische Profil der Universität ging. Da gab es auch Konflikte, aber letztlich fand ich dieses Ringen um die Frage, was und wie sich das Studium an einer Jesuitenuniversität vom Studium an einer anderen Universität unterscheidet bzw. unterscheiden sollte sehr konstruktiv und hilfreich. Zuletzt war ich als Postdoc in Saint Louis und habe dort auch zwei Semester einen Einführungskurs in die Philosophie unterrichtet. Das war nicht nur wegen des Englisch spannend, sondern auch, weil es eine Art Pflichtkurs ist, die alle Studierenden einmal absolviert haben müssen. Da ist die intrinsische Motivation natürlich nicht bei jedem und jeder sofort überbordend… Aber ich habe es sportlich genommen und es war im Endeffekt eine tolle Erfahrung, insbesondere wenn man merkt, dass die Leute etwas mitnehmen trotz anfänglicher Skepsis. Gut gefallen hat mir auch das ganze Department of Philosophy, insbesondere der kollegiale Austausch untereinander. Etwa gab es alle zwei Wochen an einem Freitagnachmittag einen Vortrag von einem namhaften Gast, über den man sich dann im Anschluss austauschte.
Im kommenden Jahr werden Sie erstmalig einen Workshop in Rom zwischen Fakultätsmitgliedern und Graduate Students der Saint Louis University und der Hochschule organisieren. Dabei wird es um „Human flourishing and the integrated self: Perspectives from philosophy, psychology and theology” gehen. Was sind Ihre Hoffnungen für dieses Treffen?
Das Treffen ist eine Art „kick-off event“ für eine engere Zusammenarbeit beider Institutionen. Meine Hoffnung ist, dass sich Lehrende und Lernende persönlich kennenlernen und auch einfach mal einen Einblick bekommen, woran der oder die andere so arbeitet, wofür sie sich interessiert, welche Expertise er hat usw. Meiner Erfahrung nach motiviert das enorm, Zeit und Energie in solche Kooperationen zu investieren und es macht die Zusammenarbeit viel einfacher, wenn man sich einmal persönlich erlebt und kennengelernt hat.
Sie haben Ihre Dissertation zum Liberalismus verfasst. Was reizt/e Sie an diesem Thema und gibt es Punkte aus dieser Forschung, die Sie in aktuellen politischen Debatten vermissen?
Was mich gereizt hat war auszuloten, ob sich zwei scheinbar gegenteilige und einander ausschließende Positionen nicht doch irgendwie versöhnen lassen. Viele führende Vertreter eines Liberalismus in der Politischen Philosophie haben die These vertreten, dass ein Liberalismus auf die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips verpflichtet. Gemäß einem solchen Neutralitätsprinzip dürfen sogenannte „perfektionistische“ Argumente, also Argumente, deren Gültigkeit abhängig ist von der Akzeptanz einer kontroversen Vorstellung von einem guten Leben, keine Rolle in der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Maßnahmen spielen. Zum Beispiel darf gemäß diesem Neutralitätsprinzip im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung einer Schulpflicht das Argument nicht vorgebracht werden, dass es gut für Kinder ist, kritisches Denken zu lernen und kritisches Denken wichtig ist für eine autonome Lebensführung, weil diese Vorstellung von einem guten Leben eben vielleicht nicht umfassend konsensfähig ist. Auf der anderen Seite scheint mit der Aufgabe eines solchen Neutralitätsprinzips aber die Gefahr zu bestehen, dass es dann Fälle geben kann, in denen staatliches Handeln als öffentlich gerechtfertigt und somit legitim gilt, auch wenn es nicht allen Bürgern gegenüber mit Überlegungen gerechtfertigt worden ist, die diesen als Gründe zugänglich sind. Was mich also gereizt hat, war auszuloten, ob es hier einen theoretischen Mittelweg gibt, der liberal bleibt aber auch perfektionistischen Intuitionen gerecht werden kann.
In aktuellen Diskussionen vermisse ich manchmal, dass Leute „out of the box“ denken. Warum zum Beispiel so oft das Fehlen eines „Konsenses“ beklagen? Aus der Debatte, die ich bearbeitet habe, können wir lernen, dass „Konsens“ ein oft nicht zu erreichendes Ideal ist und man stattdessen eher nach „Konvergenzen“ suchen sollte. Wo können wir uns auf etwas einigen, auch wenn die Gründe, die wir haben, völlig unterschiedlich sind? Etwas salopp formuliert: Das Beste ist oft der Feind des Guten…
Welche Akzente wollen Sie in Forschung und Lehre an der HFPH in den kommenden Semestern setzen?
Ein Akzent wird das metaphysische Denken von Thomas von Aquin sein. Meiner Ansicht nach gibt es da noch viele ungehobene Schätze, die für aktuelle philosophische Debatten fruchtbar gemacht werden können. Zurzeit beschäftigt mich zum Beispiel, was er über den Tod, das Leben der Seele nach dem Tod und die leibliche Auferstehung sagt. Klingt ein wenig schräg, aber im Grunde geht es um die spannende Frage, ob sich eine aristotelische metaphysische Anthropologie mit zentralen christlichen Glaubensinhalten versöhnen lässt. Anders formuliert, es geht um die Frage, ob Menschen mit dem Tod einfach komplett aufhören zu existieren und dann evtl. mit der Auferstehung neu geschaffen werden oder der Tod eher als eine Art radikaler Übergang in eine andere defizitärere und vorübergehende Existenzweise zu verstehen ist, die bis zu einer möglichen leiblichen Auferstehung andauert. Existenz bleibt also auch weiter ein Thema.
Ein Spielbein bleibt aber die Politische Philosophie. So werde ich in diesem und im nächsten Semester der Frage nach der Transformation des Selbst und der Welt im Kontext der Klimakrise nachgehen. Die sich immer deutlicher abzeichnenden Folgen des Klimawandels machen deutlich, dass sich etwas verändern muss. Wir müssen die Welt so (um-)gestalten, dass auch nachfolgende Generationen noch gut in ihr Leben können. Nun ist die Veränderung der Welt auch Aufgabe der Philosophie, weil sie ihren Ausgang in der Veränderung – der Transformation oder Umformung – des Selbst nimmt. Es braucht ein neues Denken, ein neues „mindset“. Was mich nun interessiert ist insbesondere die Frage, wie man mit Widerstand umgeht. Was kann uns die Philosophie lehren, wenn offensichtlich wird, dass das was getan werden müsste oder sollte, nicht getan wird. Wie geht man mit der Möglichkeit des Scheiterns um, dem daraus resultierenden Frust, der Wut und Ohnmacht? Kann die Philosophie hier „trösten“, ohne zu „vertrösten“? Welche Rolle kann oder sollte Glaube oder Religion in diesen transformativen Prozessen spielen? Ist Religion mit ihrer Aussicht auf eine andere Welt nur Vertröstung oder braucht es nicht gerade Religion, um bereit zu sein, das Notwendige in letzter Entschlossenheit für diese Welt zu tun? Und kann es legitim sein – und wenn ja, unter welchen Bedingungen – Gewalt gegen Sachen auszuüben als eine Art „Notwehr“ oder „Gegenhalten“ gegen Gewalt, die durch eine Wirtschaft und Politik ausgeübt wird, die den Klimawandel nicht aktiv und konsequent genug bekämpft und damit tötet? Das sind alles Fragen, über die ich gerne mit Studierenden an der Hochschule nachdenken würde in den nächsten Semestern.
Zur Person: Patrick Zoll SJ ist seit 2017 Dozent für Metaphysik und Politische Philosophie an der Hochschule für Philosophie München und seit 1998 Mitglied des Jesuitenordens. 2015 erfolgte die Promotion in Philosophie an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms Universität Bonn. Seine Dissertation wurde 2016 mit dem Karl Alber Preis des Philosophischen Jahrbuchs ausgezeichnet. Patrick Zoll SJ forscht in der Politischen Philosophie zu Liberalismus, Perfektionismus, Pragmatismus und Theorien öffentlicher Rechtfertigung und in der Metaphysik zu Hylemorphismus, Theorien der Existenz und zu Thomas von Aquin. Lehr- und Forschungsaufenthalte führten ihn 2016 und 2019-2020 an die Saint Louis University in St. Louis, MO.