Thesen zur Enzyklika "Laudato Si'"

Als "epochal" wertet Prof. Dr. Dr. Wallacher das neue Lehrschreiben des Papstes, "Laudato Si'". "Franziskus hat einen ethischen Kompass für eine nachhaltige Entwicklungsagenda vorgelegt."

Laudato Si‘ –
Kompass für eine menschen- und umweltgerechte Entwicklungsagenda

Thesen zur Zusammenfassung und Einordnung der Enzyklika

„LAUDATO SI’. ÜBER DIE SORGE FÜR DAS GEMEINSAME HAUS“

von Papst Franziskus

 

These 1:   Epochale Weiterentwicklung der kirchlichen Sozialverkündigung

Papst Franziskus sieht in der Gefährdung unserer Lebensgrundlagen, der weltweiten Armut und sozialen Ungleichheit die zentralen Herausforderungen unserer Zeit und wendet sich eindringlich an alle Menschen guten Willens, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo er noch die Möglichkeit zum Handeln sieht. Er selbst stellt sich damit bewusst in die Tradition der Enzyklika Pacem in Terris, mit der sich Papst Johannes XXXIII. nach dem Bau der Berliner Mauer und nach der Kubakrise nicht nur an Gläubige, sondern an alle Menschen guten Willens wandte, als die Welt am Abgrund eines Atomkrieges taumelte (SI 3). Implizit knüpft er sicherlich auch an die Enzyklika Populorum progressio an – die erste Sozialenzyklika, die ganz den Fragen der Entwicklung gewidmet war und wegweisende Leitlinien für die friedliche Entwicklung einer Welt vorstellte, die heute noch weit mehr als damals nur als „Eine Welt“ bzw. „unser gemeinsames Haus“ eine Zukunft hat.

Populorum progressio geht von einem umfassenden und differenzierten Verständnis von Entwicklung aus: „Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben“ (PP 14). Wahre Entwicklung muss „nach einem neuen Humanismus Ausschau halten“ (PP 20), der die Entfaltung des Menschen und der ganzen Menschheit in ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Hinsicht zur Geltung bringt. Franziskus fügt mit der ökologischen Verwiesenheit des Menschen nun eine wesentliche Dimension der Beziehung hinzu, indem er klar stellt, dass die Menschen mit der Umweltzerstörung nicht nur ihre Ressourcenbasis schädigen, sondern ganz wesentlich sich selbst.    

Methodisch folgt die Enzyklika weitgehend dem klassischen Dreischritt „Sehen–Urteilen–Handeln“. Er beginnt mit einer Analyse der wesentlichen ökologischen und sozialen Probleme im ersten Kapitel, skizziert im zweiten Kapitel die reiche jüdisch-christliche Tradition mit dem Auftrag, verantwortlich bzw. treuhänderisch mit der Schöpfung und ihren Erdengütern umzugehen. In diesem Sinn argumentiert die Enzyklika nicht mehr primär aus einer naturrechtlichen Perspektive, sondern fast schon in einer pragmatistischen Weise, welche die Analyse der Beziehungen (Umwelt-/Sozial-/Wirtschafts-/Kultur-/ Humanökologie), die in der Wirklichkeit selbst zu finden sind, in den Vordergrund stellt, um inspiriert durch schöpfungstheologische Überlegungen die Verantwortung von Menschen, Gruppen und Institutionen zu stärken. Im dritten Kapitel hebt Franziskus die menschlichen Ursachen der ökologischen Krise hervor, die er in der exzessiven Selbstbezogenheit (der Mensch missachte die vielfältigen Beziehungen, in die er eingebunden ist) und einer einseitigen Technokratie sieht. Das Bevölkerungswachstum relativiert er nicht als Problem, sehr wohl aber als Ursache für den Klimawandel, weil es als Vorwand verwendet wird, Um „auf diese Weise das gegenwärtige Modell der Verteilung zu legitimieren“ (SI 50). Dem stellt Franziskus im vierten Kapitel das Leitbild der ganzheitlichen Ökologie gegenüber. Der Dialog als das Leitbild für Orientierung und Handlung (Kapitel 5) sowie Erziehung und (Gewissens-)-Bildung sind für Franziskus für die notwendige Umkehr. Der besondere Beitrag der Religionen besteht in der Kontemplation, die einen anderen (unverzweckten) Blick auf die Wirklichkeit werfen als Markt und Technik, und die vom Äußeren zum Inneren übergehen. Dies illustriert er an zahlreichen Heiligen, die als Lehrerinnen und Lehrer vorgestellt werden, wie man angemessen im Buch der Schöpfung lesen kann – allen voran am Heiligen Franz von Assisi.

Auch in anderen Bereichen nimmt Franziskus inhaltlich wie methodisch die Tradition kirchlicher Sozialverkündigung auf und entwickelt diese konsequent weiter, wie nachfolgend noch an der fünften These verdeutlicht wird.

Bemerkenswert ist schließlich der inter- und transdisziplinäre Ansatz. Der Papst lädt ausdrücklich dazu ein, mit den Wissenschaften in Dialog zu treten und die aktuellen Erkenntnisse der Natur-, Umwelt- und Sozialwissenschaften zur Kenntnis zu nehmen und mit einer biblisch-theologischen wie verantwortungsethischen Sicht zu verbinden. Der Dialog mit Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und vor allem den Betroffenen ist für ihn schließlich der Schlüssel für eine faire und angemessene Lösung.

These 2:  Kompass für eine menschen- und umweltgerechte Entwicklungsagenda

Der Papst macht sehr klar, dass die Weltgemeinschaft heute vor verschiedenen globalen Problemen und Herausforderungen steht, die sich nur in gemeinsamer Verantwortung und Anstrengung bewältigen lassen. Zu diesen Herausforderungen gehören die anhaltend hohe Armut und das wachsende Wohlstandsgefälle in vielen Teilen der Welt, immer stärker aber auch die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, allen voran durch den Klimawandel, aber auch die Bedrohung der Lebensgrundlage Wasser, der Verlust an Biodiversität, die Überfischung von Ozeanen oder die Abholzung der Regenwälder.

So unterschiedlich die Ursachen von Klimawandel bzw. anderen Umweltproblemen auf der einen, und weltweiter Armut auf der anderen Seite, auch sein mögen, so offenkundig sind inzwischen die vielfältigen Verknüpfungen. So sind die armen Menschen, Regionen und Länder, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, bereits jetzt und zukünftig besonders von seinen negativen Folgen betroffen. Sie haben zudem kaum Möglichkeiten, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen. Schon heute gefährdet der Klimawandel in einigen Regionen die Ernährungssicherheit, die Wasserversorgung und die Gesundheit der Menschen und untergräbt damit die internationalen Bemühungen zur Armutsbekämpfung. Außerdem verweist die Enzyklika auf die Gefahr verstärkter Migration, die der Klimawandel auslösen könnte. Das Bevölkerungswachstum sieht der Papst nicht als Verursacher des Klimaproblems – nicht die Zahl der Menschen sei das Problem, sondern die Verteilung der verfügbaren Ressourcen für Entwicklung (SI 50).

Die untrennbare Verknüpfung von sozialer und ökologischer Krise durchzieht die gesamte Enzyklika und wird an vielen konkreten Beispielen verdeutlicht: „Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, einer der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozio-ökologische Krise“ (139). Von daher ist es nicht angemessen, die Enzyklika „Laudato Si‘“ auf eine „Umwelt‐“ oder „Klimaenzyklika“ zu reduzieren. Franziskus legt damit vielmehr einen bemerkenswerten und umfassend begründeten Kompass für eine menschen- und umweltgerechte Entwicklungsagenda vor.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dürfte kein Zufall sein, denn kurz nach dem G7-Gipfel in Elmau, wenige Monate vor der Weltklimakonferenz im Dezember in Paris und – vielleicht noch wichtiger – vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs bei den Vereinten Nationen in New York im September 2015, wo sich die Staatengemeinschaft auf Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Post 2015-Agenda für Nachhaltige Entwicklung) verständigen soll, möchte Papst Franziskus „in Bezug auf unser gemeinsames Haus in besonderer Weise mit allen ins Gespräch kommen“ (3).

These 3:  Die Enzyklika demaskiert die Klimaskeptiker in ihren verschiedenen Varianten als Ausdruck verschleierter Macht- und Partikularinteressen

Der Papst fordert dazu auf, „die besten Ergebnisse des heutigen Stands der wissenschaftlichen Forschung zu übernehmen, uns davon zutiefst anrühren zu lassen und dem dann folgenden ethischen und geistlichen Weg eine Basis der Konkretheit zu verleihen“ (SI 15). Er lässt damit keinen Zweifel an der Validität der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die mit sehr hoher Sicherheit davon ausgehen, dass der Klimawandel menschengemacht ist und zu großen Teilen auf den starken und noch immer kaum begrenzten Anstieg der Treibhausgasemissionen seit der Industrialisierung zurückzuführen ist. Er bezieht jedoch nicht nur klar Stellung gegen diejenigen, welche die anthropogene Verursachung des Klimawandels leugnen, sondern auch gegenüber der so genannten zweiten Generation von Klimaskeptikern, die z.B. recht prominent von einer Gruppe einflussreicher Ökonomen rund um den Dänen Bjørn Lomborg medienwirksam vertreten wird. Im so genannten „Kopenhagen Konsens“ hat diese Gruppe auf der Basis klassischer Kosten-Nutzen-Analysen eine Prioritätenliste von Lösungsvorschlägen für die wichtigsten globalen Herausforderungen erarbeitet. Darauf taucht die Bekämpfung des Klimawandels durch zügige Minderungen der Emissionen an letzter Stelle auf. Vielmehr sollen die einzelnen Staaten und die Staatengemeinschaft ihre verfügbaren Mittel vorrangig in Projekte zur Bekämpfung von Unterernährung und Krankheiten, zur Förderung von Bildung und zur Stärkung von
Frauen investieren, weil dies im Vergleich zur Emissionsminderung einen sehr viel höheren Nutzen bei vergleichsweise geringen Kosten hätte. Der Klimawandel lasse sich besser in der Zukunft lösen, weil Emissionsminderung heute zu teuer sei.

Franziskus macht sehr deutlich, dass er eine Trennung von Umwelt- und Entwicklungsfrage nicht akzeptiert, weil der ungebremste Klimawandel irreversibel ist und vor allem die Armen trifft. Eine Leugnung des Klimawandels oder eine Isolierung der Armuts- von der Klimafrage sieht Franziskus im Interesse derjenigen, „die mehr Ressourcen und ökonomische oder politische Macht besitzen [und] … sich vor allem darauf zu konzentrieren [scheinen], die Probleme zu verschleiern oder ihre Symptome zu verbergen“ (SI 28) – „verschleiert“ darum, weil hier nicht um die wissenschaftliche Wahrheit gerungen wird, sondern Partikularinteressen gegen das Gemeinwohl durchgesetzt werden sollen.

These 4:  Ganzheitliche Ökologie: Umweltschutz und Armutsbekämpfung nicht gegeneinander ausspielen!

Die Inhalte der ersten beiden Thesen zusammengekommen bilden eine wichtige Grundlage, um möglichen Einwänden gegen die Botschaft den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Wenn man etwa die Debatte betrachtet, die im Vorfeld der Enzyklika vor allem in den USA geführt wurde, so gibt es dort viele laute Stimmen, teilweise auch in der katholischen Kirche, die versuchen könnten, die Debatte auf eine Trennung der Armuts- von der Umweltfrage zuzuspitzen, um damit die Enzyklika zu neutralisieren. Eng damit verknüpft könnte ein weiterer Vorwurf sein, der aus der Debatte im Vorfeld herauszuhören war: Der Papst sei mit seiner Enzyklika in eine malthusianische Falle getappt. Wer im Namen des Klimaschutzes auf Wachstum verzichte, vermindere die Entfaltungschancen der Armen. Daraus leiten Kritiker ab, es müsse eine Priorisierung geben: Erst die Lösung der Armutsfrage, dann die Lösung des Klimaproblems. Der Enzyklika könnte von daher der Vorwurf gemacht werden, dass die Betonung der Umweltprobleme die soziale Frage nicht ernst nehme, oder Franziskus damit sogar die „Option für die Armen“ verrate.

Es ist offenkundig, dass der Papst dieses Dilemma nicht akzeptiert. Auch deshalb ist es wichtig, „Laudato Si‘“ nicht einfach als „Umwelt‐“ oder „Klimaenzyklika“ aufzufassen, sondern als fundierten Kompass integraler Entwicklung. Franziskus betont die Notwendigkeit einer integralen Betrachtung von Armuts‐ und das Klimaproblematik. Kern dessen und neues Paradigma von Gerechtigkeit sind für Franziskus die von ihm im vierten Kapitel entfalteten „verschiedenen Elemente einer ganzheitlichen Ökologie, welche die menschlichen und sozialen Dimensionen klar mit einbezieht“ (SI 137). Wenn wir gleichzeitig die Armut bekämpfen und die Umwelt bewahren wollen, müssen wir uns Franziskus zufolge neu mit der Umwelt, den Armen und auch zukünftigen Generationen in Beziehung setzen. „In Beziehung setzen und bleiben“ ist der Kern einer ganzheitlichen Ökologie als die zentrale Leitidee der Enzyklika.

These 5: Globales Gemeinwohl und die gemeinsame Bestimmung der Erdengüter

Die ganzheitliche Ökologie ist für Franziskus untrennbar verknüpft mit dem Prinzip des Gemeinwohls (SI 156), das für ihn angesichts der globalen Verflechtungen und Abhängigkeiten notwendigerweise auf die Weltgesellschaft bezogen und angesichts der existierenden sozialen Ungleichheiten als Option für die Armen entfaltet werden muss. Bedeutung hat dies vor allem für den Grundsatz der gemeinsamen Bestimmung der Erdengüter, der konsequenterweise auch auf alle natürlichen Ressourcen bezogen wird (SI 93-95), erstmalig in der Geschichte der Soziallehre der Kirche auch auf globale Kohlendioxid‐Senken wie die Erdatmosphäre („Das Klima ist ein gemeinschaftliche Gut von allen für alle“, SI 23). Damit sind nicht nur Rohstoffe, sondern auch globale Kohlendioxid‐Senken wie die Erdatmosphäre oder die Ozeane Gemeinschaftsgüter, deren Nutzung allen Menschen zusteht. Diese Güter bzw. der daraus erwachsene Nutzen ist nach Grundsätzen der Gerechtigkeit zu verteilen.

Nicht nur die Rechte an der Nutzung von immer knapperen Rohstoffen oder fossilen Energieträgern wie Kohle, Öl und Gas unterstehen gemäß der Tradition der katholischen Soziallehre der Sozialpflichtigkeit des Privateigentums, sondern mit der Einbeziehung von Kohlendioxid‐Senken wird die Eigentumslehre der katholischen Soziallehre auf einen neuen Gegenstand angewandt. Damit wird das Handeln derjenigen delegitimiert, welche sich nach dem Recht des Stärkeren unrechtmäßig einen größeren Anteil sichern (SI 51).

Die Implikationen der in den Ziff. 23-26 dargelegten Zusammenhanges können kaum überschätzt werden und folgen weitgehend den Analysen, die der Klimaökonom Ottmar Edenhofer schon länger verfolgt (vgl. z.B. Edenhofer, Ottmar u.a., Wem gehört die Atmosphäre?, in Stimmen der Zeit, Heft 2, Februar 2011, 75-88).

Wenn Franziskus zum Schutz des Klimas rasche, dauerhafte Minderungen von Treibhausgasemissionen fordert, hat das Prinzip, die Erdatmosphäre als Gemeingut zu konzeptualisieren, weitreichende Konsequenzen, die im Text angedeutet werden. Wenn die Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre und der Ozeane für Kohlenstoff begrenzt ist, und ein gefährlicher Klimawandel mit schwer zu bewältigenden Folgen gerade für die Ärmsten vermieden werden soll, muss die Extraktion von fossilen Energieträgern erheblich eingeschränkt werden. Dies ist nur möglich, wenn ein erheblicher Teil der Vorräte an Kohl, Öl und Gas im Boden bleiben, obwohl ihr Abbau grundsätzlich noch einträglich wäre.

Ein zwischenstaatliches Abkommen zur Begrenzung der Erderwärmung auf zwei Grad würde demzufolge eine „Enteignung“ der Besitzer von fossilen Energieträgern völkerrechtlich untermauern und bedeuten, dass globale Gemeinschaftsgüter völkerrechtlich geschützt werden müssen. Im Fünften Sachstandsbericht des IPCC haben die Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention sich aus Furcht vor dieser völkerrechtlichen Implikation gescheut, die Atmosphäre als globales Gemeinschaftseigentum anzuerkennen und diesen Gedanken lediglich in einer Fußnote erwähnt. Der Papst hat mit der Enzyklika dagegen den Mut, den Status der Atmosphäre als globales Gemeinschaftseigentum zum normativen Leitprinzip der Klimapolitik zu machen.

These 6:  Dialog und Transparente wie partizipative Entscheidungsprozesse

Zur Analyse gehört für Franziskus ganz wesentlich „die Schwäche der Reaktion“ (SI 53-59). Er hält es daher für ganz entscheidend Führung beim notwendigen Gegensteuern und politischen Handeln zu übernehmen. Er stellt weniger ein inhaltliches politisches Handlungsprogramm als Leitlinien der Handlungsorientierung vor, also vor allem prozedurale Aspekte. Für die auf die Analyse folgende Handlungsebene ist für Franziskus der Dialog entscheidend. Er ist das zentrale Instrument, um „aus der Spirale der Selbstzerstörung herauszukommen, in der wir untergehen“ (SI 163), hat – folgt man dem Grundgedanken der ganzheitlichen Ökologie – aber auch einen Eigenwert, weil der Mensch nur durch den Dialog wirklich in Beziehung tritt.

Ohne es systematisch auszuführen und so bezeichnen folgt Franziskus im Kapitel 5 einem Konzept der politischen Steuerung, dass den Strukturveränderungen der internationalen Politik Rechnung zu tragen versucht („Global Governance“). Dabei werden verschiedene Ebenen politischen Handelns identifiziert, die dem Prinzip der Subsidiarität zu folgen haben. Im Zentrum stehen die Nationalstaaten, da primär sie die Kapazität haben, Krisen je nach Problemlage abzufedern oder die Grundlagen für deren Bewältigung zu schaffen. Die entwickelten Länder haben eine besondere Verantwortung für Armut und Umwelt, und damit auch für ihre Beseitigung (finanzieller Verzicht, Transfer von neuen Technologien, Energieumstellung, Neuordnung des Marktes mit zeitweiliger Deflation). Die ärmeren Länder stehen in der Verantwortung, Korruption zu beseitigen und die Ungleichheit zu vermindern (SI 172).

Franziskus lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass globale Probleme wirksame zwischenstaatliche und mit Sanktionen bewährte internationale Institutionen und Vereinbarungen mit Rahmenbedingungen erfordern, die z.B. eine Internalisierung (nicht Internationalisierung!) der Umweltkosten ermöglichen. Dafür wird im Rückgriff auf frühere Enzykliken leider wieder der höchstmissverständliche Begriff der „politischen Weltautorität“ (175) verwendet, ohne ihn eindeutig gegenüber der UNO einzuordnen. Für die internationale Zusammenarbeit wird plausiblerweise der Grundsatz der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung genannt (170). Große Hoffnung setzt Papst Franziskus auf die lokale und regionale Handlungsebene, die in verschiedenen Organisationsformen (z.B. Kooperativen) ihre Verantwortlichkeiten durch einen stärkeren Gemeinschaftssinn wahrnehmen und kreative Lösungen finden. Diese Erfahrung ist durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der verstorbenen Nobelpreisträgerin für Ökonomie, Elinor Ostrom, durchaus gedeckt (ohne dass die Enzyklika Bezug darauf nimmt).

Ein zweites Merkmal ist die Pluralität von Governance-Strukturen. Denn v. a. was den völkerrechtlichen Status und die demokratische Legitimität angeht. Dazu gehört die politische Zusammenarbeit mit nicht staatlichen Akteuren, seien sie aus der Privatwirtschaft oder Zivilgesellschaft, in sogenannten Multistakeholder-Initiativen wie das menschenrechtliche Engagement von Unternehmen. Die Vielfalt der Initiativen hat auch ihre unübersehbaren Schattenseiten. Sie sind meist unverbindlich, wenig aufeinander abgestimmt und stehen nicht selten sogar zueinander in Konflikt. Noch schwerwiegender ist, dass viele Steuerungselemente die ungleichen Machtbeziehungen der internationalen Politik widerspiegeln.

Das Handeln der Politik allein ist für Franziskus nicht ausreichend, er setzt stark auf die auf verschiedenen Ebenen entstehenden neuen Formen von politischer Steuerung mit sehr unterschiedlichem Charakter und misst dabei der Zivilgesellschaft größte Bedeutung bei, gerade auch um den notwendigen Druck auf die Politik aufzubauen. Auch hier ist wieder der Dialog für Franziskus entscheidend. Wir sprechen jetzt auch in der Praxis mit jedem über den Zustand der Welt (neue Themen inkl. Politik, Vielzahl von Akteuren). Dialog ist auf Augenhöhe gefordert (ehrlich; transparent) – hier formuliert Franziskus mit dem Maßstab der ehrlichen, transparenten und partizipativen Entscheidungsprozesse einen wichtigen prozeduralen Aspekt der Gerechtigkeit. Der partizipative und ehrliche Dialog ist eine notwendige Bedingung, um Druck zu erzeugen für gemeinsame stabile Institutionen; lokale Unterschiede müssen berücksichtigt werden.

Kreativität ist ein wesentliches Element für neue Lösungen und entsteht aus der Beziehung mit den anderen Geschöpfen und einer Gemeinschaft; sie kann neue Lösungen in Absetzung von einem technisierten Machbarkeitsdenken generieren. Für eine Veränderung muss man Prozesse auslösen, statt Räume der Macht zu besetzen. Dabei entsteht vielleicht eine neue Definition von Fortschritt, die vorherrschende Paradigmen durchbricht und neue Lebensweisen und Leitbilder fördert.

These 7:  Markt und Technologie im Dienst der ganzheitlichen Ökologie

Kapitel drei stellt die Ambivalenz moderner Technologien an den Anfang der Überlegungen. Technologien können einerseits helfen, Lebensqualität zu verbessern, andererseits können sie auch genau gegen die Beziehungshaftigkeit der gesamten Schöpfung, in dem sie alles nur noch zum Objekt machen. Auffällig an dem Text ist die Verknüpfung von dieser negativen Seite der Technik mit dem Begriff der Macht, wodurch die Enzyklika eine sehr weitreichende Kritik am Glauben an die Technologie impliziert. Das technologische Paradigma ermöglicht letztendende nicht, „das Ganze in den Blick zu nehmen“ (110), weshalb es aus ethischer Perspektive aus kritisiert wird.

Der moderne Anthropozentrismus leistet dieser Überhöhung der technologischen Vernunft Vorschub. Hier ist das Kernargument wieder das gleiche: Der Anthropozentrismus in seiner extremen Form vergisst, dass alles miteinander in Beziehung steht. Dieser fehlgeleitete Anthropozentrismus wird in dreierlei Hinsicht analysiert: kultureller Relativismus, Schutz (menschenwürdige) Arbeit die von der Forschung ausgehende biologische Innovation.

Trotz der deutlichen Kritik einer alleinigen Ausrichtung auf Markt und Technologie ist die Enzyklika nicht allgemein wachstums- oder technikfeindlich; sie ist diesbezüglich wesentlich differenzierter als große Teile der De-Growth-Bewegung. An verschiedenen Stellen betont Franziskus, dass die moderne Technologie die Herrschaftsmöglichkeiten des Menschen erweitert, etwa für eine Verbesserung der Lebensqualität, damit aber auch seine Verantwortung (z.B. SI 187). Dazu müsse die Technik durch die menschliche Freiheit gelenkt werden, um sie „in den Dienst einer anderen Art des Fortschritts zu stellen, der gesünder, menschlicher, sozialer und ganzheitlicher ist“ (LS 112). Sonst besteht die Gefahr, dass der Mensch diese erweiterten Herrschaftsmöglichkeiten verleugnet und damit auch seine Verantwortung. Diese stillschweigende Verweigerung der Verantwortung führt dazu, dass Technik nicht gestaltet, sondern mit dem Hinweis auf Wirtschaftswachstum und Rentabilität schlicht exekutiert wird. Franziskus warnt vor einem deterministischen Technologieverständnis, das zu organisierter Verantwortungslosigkeit führt.

Bemerkenswert ist, dass die Enzyklika in diesem Zusammenhang, wie an vielen anderen Stellen, das Moment der Kreativität betont. Kreativität als Eigenschaft der Schöpfung im Allgemeinen und des Menschen im Besonderen, sich den Zeichen der Zeit zu stellen und vorherrschende Paradigmen zu durchbrechen und neue Leitbilder und Lebensweisen zu fördern.

These 8: Die zentrale Bedeutung von Gewissenserforschung, umfassender Bildung und positiven Vorbildern

Den Abschluss der Enzyklika bilden die Ausführungen zur Ökologischen Erziehung und Spiritualität (Kapitel 6). Franziskus lässt keinen Zweifel daran, dass die notwendige Umkehr nur durch eine umfassende Gewissenserforschung und umfassende Bildung zu erreichen ist. Wenn jeder einzelne seine je eigene Verantwortung für den Erhalt des gemeinsamen Hauses hat, muss anerkennt werden, dass man sich dieser je eigene Verantwortlichkeit zu stellen hat. Gewissenserforschung, umfassende Bildung und die Orientierung an positiven Vorbildern hält Franziskus dafür m.E. zu Recht für zentral. Daraus lässt sich m.E. kein Vorwurf einer zu starken individualethischen Orientierung machen, denn wer anders als die einzelnen Menschen selbst können durch veränderte Einstellungen und anderes Verhalten die notwendigen Reformen einleiten.

Franziskus betont neben der Einstellungs- und Verhaltensänderung Einzelner auf der Mikro-Ebene die zentrale Scharnierfunktion von Leitbildern als informellen Institutionen auf der Meso-Ebene, an denen sich sowohl die einzelnen in ihrem Handeln als auch die Politik im Hinblick auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen auf nationaler und internationaler Ebene (Makro-Ebene) orientieren. Von daher ist die starke Betonung veränderter Leitbilder für Lebensqualität, das Verständnis von Fortschritt, die Rolle von Wachstum oder den Umgang mit Technik zentral. Es braucht eine kritische Masse von Menschen, die sich in ihrem Handeln an veränderten Leitbildern orientieren und damit die Leitbilder und dann auch das politische Handeln verändern.

Gewissenserforschung, das Bewusstmachen der vielen Beziehungen, durch die menschliches Leben erst gelingen kann hält Franziskus genauso für zentral wie eine umfassende Bildung, die über eine reine Vermittlung von Wissen oder „skills“ hinaus geht. Hier scheint zumindest implizit auch das Ideal ignatianischer Pädagogik durch („nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das Verkosten der Dinge von innen her“). Umfassende Bildung umfasst neben dem Wissenserwerb, die Fähigkeit einen eigenen Standpunkt zu beziehen (wenn notwendig, auch gegen den „mainstream“) und vor allem auch Herzensbildung (Empathie anderen Menschen und der Umwelt gegenüber, um die vielfältige Beziehungsstruktur zu erkennen). Gerade dafür sind auch die reichen spirituellen Traditionen der Religionen und Weisheitslehren von großer Bedeutung, die mit konkreten Personen als „personifizierte“ Vorbilder verknüpft sind. Daher lässt Franziskus zum Schluss auch noch einmal den Hl. Franz von Assisi zu Wort kommen, den er noch einmal als „best practice“-Vorbild präsentiert.

 

Johannes Wallacher

München, 17. Juni 2015