Gerade in Zeiten von Klimawandel und wachsender sozialer Ungleichheit wird die Berücksichtigung ökologischer und gesellschaftlicher Auswirkungen auch für Unternehmen unumgänglich. Die Initiative „value balancing alliance e.V.“ hat sich zum Ziel gesetzt, das Bewusstsein für die sozial-ökologische Tragweite des Wirtschaftslebens zu schärfen und die Bilanzierung von Unternehmen mit einem neuen Modell zu revolutionieren.
Konkret erarbeitet die Organisation ein Modell, mit dem sich die Gewinne und Verluste von Unternehmen in einem umfassenden Sinn messen und deren Wertbeiträge für Umwelt und Gesellschaft monetär abbilden lassen. Das bedeutet, das beispielsweise sowohl der CO2-Ausstoß entlang der gesamten Wertschöpfungskette, als auch die Investitionen in die Fortbildung der Mitarbeiter*innen in den Bilanzen berücksichtigt werden. Der Aspekt der Nachhaltigkeit wird so langfristig in der Unternehmenssteuerung integriert.
Seit ihrer Gründung im Juni 2019 wird die industrieübergreifende Allianz mit Sitz in Frankfurt am Main von CEO Christian Heller geführt – ein Alumnus der Hochschule für Philosophie München.
Der Manager (geb. 1978) studierte von 2004 bis 2007 an der HFPH. Sein Werdegang umfasst mehrere leitende Positionen, u.a. war er als Leiter des Value-to-Society Programms des Chemiekonzerns BASF tätig. Von dort aus wurde er entsandt, um die Allianz zu leiten.
Könnten Sie bitte genauer erklären, inwiefern Philosophie und Management in Ihrer Arbeit ineinandergreifen?
Ich habe das Philosophiestudium immer als eine Art des „Gehirnjogging“ verstanden. Das Studium der Philosophie befähigt einen dazu, eine holistische Perspektive einzunehmen, Zusammenhänge zu erkennen, unterschiedliche Argumentationsketten nachzuvollziehen, die Denkweise einzelner Disziplinen zu begreifen. Fähigkeiten, die es einer/einem Manager*in ermöglichen, in einer immer komplexeren Welt unterschiedliche Aspekte abzuwägen und (hoffentlich) bessere Entscheidungen zu treffen. Gerade in diversen Teams, in denen unterschiedliche fachliche Hintergründe zusammenkommen, ist es von großem Vorteil, sich in unterschiedliche Wissenschaften bereits eingedacht zu haben. Das umfassende Studium an der HFPH ist hier eine herausragende Grundlage.
Ein weiteres Kernmerkmal des Philosophiestudiums ist das Begreifen komplexer Zusammenhänge. In der heutigen Welt der „Bindestrich-Wissenschaften“, Arbeitsteilung und Spezialisierung fehlt es oft am Erkennen der Wechselwirkungen und Auswirkungen des eigenen Handelns. Das „über den Tellerrand“ Hinausschauen kommt in der durchgetakteten Wirtschaftswelt viel zu kurz – ist aber absolut notwendig, um Strategien für den Erfolg eines Unternehmens, Projekts etc. zu entwickeln. Dies gilt gerade für die notwendige Umsetzung der heuristischen Idee einer nachhaltigen, inklusiven Wirtschaft.
Mit welchen ethischen Fragen sind Sie in Ihrer Arbeit konkret konfrontiert?
Wir sehen seit einigen Jahren eine Entwicklung, dass sich das Steuerungsmodell von Unternehmen fundamental verändert. Unternehmen sind es über Jahrhunderte gewohnt, sich linear an einem Indikator auszurichten: Profit. Mit Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, sozialen Ungleichheiten, Migration, nicht zuletzt durch Corona haben sich die Treiber*innen wirtschaftlichen Erfolgs grundlegend neu ausgerichtet. Neben den klassischen Finanzkennzahlen treten weitere, gleichberechtigte Ziele, wie ein „Carbon Footprint“.
Doch wie geht man mit den potentiellen „Trade-Offs“ um? Soll ich als Unternehmen auf Kohlestrom oder Windenergie zurückgreifen? Den Shareholder oder die Stakeholder in ihren Interessen befriedigen? Wie muss ich meine Unternehmensstrategie ausrichten? Was ist der „Purpose“ meines Unternehmens und wie erfülle ich ihn am besten?
Fragen, die sich Unternehmenslenker über Jahrzehnte unter der Shareholder-Doktrin nicht haben stellen müssen. Das Abwägen, das Ausbalancieren von Trade-Offs, beinhaltet immer eine ethische Komponente. Jeden Euro, den ich verdiene, kann ich als Unternehmen anders investieren: Ich erhöhe die Dividende, zahle bessere Gehälter, fördere die Arbeitssicherheit, etc. Was ist die beste Unterscheidung für das Unternehmen? Und für Gesellschaft und Umwelt? Das Entscheiden innerhalb teilweise konfligierender Interessen hat immer ein ethisches Moment, dessen sich viele Manager*innen im Alltag erst bewusst werden müssen. Als ausgebildete Philosoph*innen fällt es uns auch schwer, einen Konzernabschluss zu erstellen oder die richtige Strategie für Pensionsanlagen zu entwickeln.
Mit der „value balancing alliance“ streben Sie einen echten Wandel in Richtung Nachhaltigkeit an – keine leichte Aufgabe. Inwieweit kann Sie die Philosophie in Ihrer Arbeit unterstützen und bereichern?
In unserer Allianz entwickeln wir Lösungen aus der Wirtschaft für die Wirtschaft. Diese Praxisnähe mag für Philosoph*innen zunächst einmal befremdlich erscheinen; und das Einleben in das System Wirtschaft, das Denken von Unternehmen, hat einige Zeit in Anspruch genommen. Das Studium der Philosophie stellt aber das Rüstzeug zur Verfügung, sich in unterschiedliche Sachverhalte einzuarbeiten.
Ein Beispiel aus der Sprachphilosophie: Wie machen Sie Entscheidungsträger*innen in der Wirtschaft die Bedeutung von Menschenrechten oder Umweltverschmutzung deutlich? Über das Sprachspiel Geld. Indem Sie Chancen und Risiken monetarisieren, in einem Eurowert ausdrücken, versteht sofort jede*r Wirtschaftslenker*in, was Sie meinen. Wenn Sie einer/einem Wirtschaftsvertreter*in sagen, dass sein Unternehmen 5 Millionen Tonnen CO-Äquivalente ausstößt, kann sie/er mit der Zahl oft wenig anfangen. Wenn Sie aber vermitteln, dass damit €450 Millionen Kosten verursacht werden, die irgendwann über eine Steuer o.ä. die Profite treffen, internalisiert werden – dann hört jede*r zu.
Dies ist einer der Gründe, warum wir im methodischen Ansatz der Allianz alle Wirkungen oder Impacts eines Wirtschaftsmodells monetarisieren. Hier kommen aber natürlich sofort ethisch sehr sensitive Fragen aufs Tablett: Was ist uns die Umwelt wert? Wie beziffere ich einen tödlichen Unfall in Euro? Das Studium der Philosophie ermöglicht hier eine vielfältige und tiefgründige Betrachtung der Pro- und Contra-Argumente. Gerade wenn es am Schluss um konkrete Entscheidungen im Geschäftsalltag und das Steuern des Unternehmens geht.
Sie haben eine beeindruckende Karriere nach Ihrem Philosophie-Studium gemacht. Was würden Sie jungen Philosoph*innen auf deren Weg in die Berufswelt raten?
Zunächst einmal: Seien Sie neugierig, seien Sie offen, interessieren Sie sich. Jede Begegnung kann Ihr Leben verändern. Lassen Sie sich von Ihren eigenen Interessen leiten und konzentrieren Sie sich im Studium auf das, was Ihnen am meisten Spaß macht. Nach meiner Erfahrung sind nur die Menschen erfolgreich, die wirklichen Spaß an Ihrer Tätigkeit haben – wobei die Motivation völlig unterschiedlich sein kann.
Zudem kann ich nur raten, sich möglichst früh Gedanken zu machen, in welchem Bereich man später tätig sein möchte: Politik, Wirtschaft, Kunst und Kultur, Wissenschaft, etc. Hier eine frühe Entscheidung zu treffen und dann möglichst viele praktische Erfahrungen zu sammeln, ob als Praktikant*in oder Werksstudent*in, hilft bei der Entscheidungsfindung. Seien Sie dabei zielstrebig, nehmen Sie sich aber auch die Zeit und verfallen Sie nicht dem Scheinwettbewerb, nach möglichst wenigen Semestern ins Arbeitsleben einzutreten.
Und denken Sie immer daran: berufliche Karrierepfade sind in den wenigsten Fällen geplant und strukturiert. Es gibt immer wieder Veränderungen, oft unerwartet und disruptiv. Lassen Sie sich davon nicht entmutigen: Begreifen Sie es als Chance zur Neuorientierung.
Bei all dem: Bauen Sie sich ein Netzwerk auf. Kontakte sind das A und O, um sich beruflich weiterzuentwickeln, neue Chancen und Angebote zu bekommen, in schlechten Zeiten aufgefangen zu werden. Und seien Sie sich nicht zu schade, um Hilfe zu bitten. Die meisten Menschen freuen sich (trotz aller Gerüchte) darüber, ihren Mitmenschen konkret helfen zu können.
Wie blicken Sie heute auf Ihr Studium an der HFPH zurück?
Zuallererst: Das Studium an der HFPH gehört zu den erfüllendsten und intellektuell spannendsten Zeiten des Lebens. Ich habe mir viel zu wenig bewusst gemacht, wie privilegiert man ist, in München an der HFPH zu studieren und auf das Umfeld dieser Wissenschaftsmetropole zurückzugreifen. Ich hätte mir viel öfter ein Helles nehmen sollen, mich an den Monopteros setzen sollen, um mit etwas Abstand die Schönheit von München und dem Studium zu genießen. Die Alltagsmühlen und das getrieben Sein kommt schnell genug.
Natürlich kommen einem beim Zurückdenken die Aula, die Seminarräume, die Bibliothek in den Sinn. Nahezu Nostalgie! Die vielen Gespräche, tiefgründigen und seichten Diskussionen, Erkenntnisse, die wie Schuppen von den Augen fallen – „brilliant minds“ aus unterschiedlichen Richtungen. Einfach eine Bereicherung, von der ich bis heute zehre.
Wofür ich der HFPH bis heute dankbar bin, ist die unglaubliche Breite der Ausbildung. Ein BWL-Studium hätte den Einstieg in den wirtschaftlichen Alltag sicher einfacher gemacht – ob ich dann aber eine so spannende und abwechslungsreiche Karriere hätte machen können, wage ich zu bezweifeln. Die Früchte der Breite der philosophischen Ausbildung ernte ich heute: Im Gespräch mit Wirtschafsvertreter*innen, Politiker*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaften usw.
Im Nachhinein war die Entscheidung für das Studium an der HFPH sicher eine der entscheidendsten und besten in meinem Leben.
Weiterführende Informationen: https://www.value-balancing.com/