In dem Projekt „Politics in Search of Evidence“ arbeiten Sie an der interdisziplinären Schnittstelle von politischer Philosophie und Sozialmedizin. Was wird in dem Projekt untersucht und welche Impulse erhoffen Sie sich?
Das Projekt untersucht das Verhältnis von Politik und Wissenschaft, insbesondere mit Blick auf die politischen Entscheidungen während der COVID-19-Pandemie. Dabei geht es uns darum, verschiedene Modelle auf ihre Tragfähigkeit und normativen Grundannahmen und Implikationen hin zu überprüfen. Ziel ist es, ein überzeugendes Konzept einer wissenschaftlich informierten demokratischen Politik zu entwickeln.
Besonders interessant wird es sein, zu klären, welchem (Selbst-)Verständnis die Akteur*innen in Politik und Wissenschaft anhängen, welche Auffassungen der jeweiligen Kompetenzen und Rollen also tatsächlich wirkmächtig sind und in welchem Maße sich die politische Entscheidungsfindung in der Pandemie auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt hat bzw. nicht gestützt hat. Außerdem wollen wir einen genaueren Blick darauf werfen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit insbesondere demokratische Politik ein gutes Wissensfundament hat – das berührt dann auch Themen wie Wissenschaftskommunikation, Bildung und demokratische Partizipation.
Sie setzen sich mit der Legitimierung sogenannter evidenzbasierter Politik (EBP) auseinander. Warum ist es so entscheidend, Möglichkeiten und Grenzen einer solchen EBP aufzuzeigen?
Gerade in Krisenzeiten ist der Ruf nach Sicherheit groß. Die evidenzbasierte Politik (EBP) erscheint hier als ein Problemlösungsmodell, das dieses Bedürfnis erfüllt. Allerdings wird hier mit einem Begriff von Evidenz operiert, der sehr eng ist und in einigen Disziplinen, u. a. der Ökonomie oder der Medizin, kritisiert wird. Die Entscheidungen über Maßnahmen etwa zur Eindämmung der Pandemie zeichnen sich aber durch ein hohes Maß an Unsicherheit und Komplexität aus und müssen zudem häufig unter erheblichem Zeitdruck getroffen werden, d. h. ohne belastbare Evidenzen im strengeren Sinne. Diese Herausforderung stellt sich z. B. auch mit Blick auf die Klimakrise. Es ist daher wichtig, zu klären, wie wissenschaftliche Erkenntnisse in politische Entscheidungsfindungsprozesse einfließen können, etwa über wissenschaftliche Politikberatung, und welche anderen Wissensformen hinzugezogen werden müssen.
Ihr Denken ist geprägt von der Tradition des philosophischen Pragmatismus. Was hat Sie an dieser Denkschule besonders angezogen?
Dass sie den Menschen und seine Versuche, sich einen Reim auf die Welt zu machen, ernst nimmt. Naturwissenschaftliche Forschung hat dabei genauso ihre Berechtigung wie künstlerische Zugänge oder auch religiöse Deutungsangebote. Diese prinzipielle Anerkennung davon, dass es verschiedene Perspektiven geben kann, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind, geht mit einem philosophischen Instrumentarium einher, die Konflikte, die daraus entstehen können, vielleicht nicht zu lösen, aber doch friedlich auszutragen. Das Ringen darum, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, was richtig und falsch ist, wie gutes Zusammenleben funktionieren kann, wird als offenes Projekt verstanden, bei dem das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Vielmehr gilt es, die Antwortversuche auf ihre Tragfähigkeit hin zu erproben, wobei dem Pragmatismus die menschliche Erfahrung als Ankerpunkt und Prüfstein dient. Insofern verbinden sich gewissermaßen die Bejahung des Pluralismus und ein kritischer Impuls – ein Ansatz, den ich für sehr fruchtbar halte und der meinem philosophischen Temperament entgegenkommt.
Den Abschluss Ihres Buches „Pragmatic Humanism Revisited“ (2018) haben Sie der Frage nach der Tragkraft eines pragmatistischen Humanismus als „way of life“ gewidmet. Aktuell stehen wir wieder vor großer Unsicherheit. Welche Ratschläge hält Ihr Buch für die eigene Lebensgestaltung bereit?
Die vielleicht etwas ernüchternde Antwort darauf lautet, dass die Unsicherheit nicht aus dem menschlichen Leben zu tilgen ist und es eine bleibende – und sehr fordernde – Aufgabe ist, sich zu dieser existentiellen Unsicherheit zu verhalten. Insofern ist auch Ratgebern mit Skepsis zu begegnen, die mit dem Versprechen einer Anleitung zum guten Leben locken. Eine Garantie aufs Glücklichsein ist mit dem pragmatistischen Humanismus nicht gegeben. Wohl aber glaube ich, dass er eine Haltung philosophisch unterfüttern kann, die man im weitesten Sinne als aufgeklärt verstehen kann. Das heißt für mich vor allem, sich einer permanenten Selbstprüfung zu unterziehen. Insbesondere schließt das die Reflexion auf die Verletzlichkeit und Begrenztheit unserer Existenz mit ein. Denken wir diese mit, so kann es gelingen, zu einem Selbst- und Weltverhältnis zu kommen, das uns erlaubt, uns als Wesen zu verstehen, die ein Leben mit Bedeutung führen können, weil es, mit etwas Pathos gesprochen, auf uns ankommt. Damit ist zugleich eine große Verantwortung benannt, die uns sensibel machen sollte für die Auswirkungen unseres Handelns, nicht zuletzt auch mit Blick auf andere.
Der Pragmatismus hat durchaus transformative Züge. John Dewey etwa bemerkt schon 1917: „Philosophie gewinnt sich selbst wieder zurück, wenn sie […] Methode wird, um die Probleme der Menschen zu bewältigen“. Welche Impulse können wir für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aus dem Pragmatismus gewinnen?
Zunächst ist es die (Fach-)Philosophie selbst, die nach wie vor durch das reformatorische Anliegen des Pragmatismus in ihrem Selbstverständnis angefragt wird. Was tun wir als Philosoph*innen eigentlich? Und wie ist es um die lebensweltliche Relevanz dieses Tuns bestellt? Die Rückbindung des Philosophierens an Probleme, die sich wirklich (und eben nicht nur auf dem Papier) stellen, ist heute nicht weniger Aufgabe als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Aber auch darüber hinaus gibt es unabgegoltene Potenziale. So zählt es zu den Kerneinsichten des Pragmatismus, dass Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern vielmehr eine Lebensform ist. Demokratische Praxis beruht damit auf Bedingungen, die nicht einfach von sich selbst aus andauern. Das heißt, dass es nicht reicht, nur die institutionelle Rahmung zu schaffen und sich auf einmal Erreichtem auszuruhen. Der Vormarsch des Populismus und autoritärer Regierungen in vielen Ländern, die der Form nach demokratisch verfasst sind, macht dies nur allzu deutlich. Ein demokratisches Miteinander bedarf einer fortwährenden Kultivierung von Diskurs- und Pluralismusfähigkeit. Eine auf Dauer gestellte Demokratisierung der Demokratie wird angesichts der gegenwärtigen und noch kommenden Belastungsproben wie etwa der Bewältigung von Pandemien oder der Klimakrise noch wichtiger.
Wie hat sich das Projekt PoSEvi in der Zwischenzeit weiterentwickelt?
In einem interdisziplinären Projekt wie unserem gibt es zunächst einmal viel zu lernen, was das gemeinsame Arbeiten angeht. Wir haben schon in der Anfangsphase gemerkt, dass wir im Team große Überschneidungen haben, was unsere Forschungsmotivationen angeht: Wir wollen ein Angebot für die kritische Selbstreflexion der Akteur*innen in der Pandemie machen und somit einen Beitrag nicht nur zur Aufarbeitung, sondern vor allem auch mit Blick auf zukünftige Herausforderungen leisten. Das Spezifische unseres Projekts liegt dabei darin, dass wir die Perspektiven von Public Health und praktischer Philosophie in einen Dialog bringen – und dafür musste zunächst einmal ein grundlegendes Gespür für das, was die jeweils andere Disziplin ausmacht, wie sie Fragen stellt und bearbeitet, entwickelt werden. Wir haben also als Team die Aufgabe gehabt, uns, wenigstens grundlegend, mit für uns zum Teil fremden Methoden und Theorieansätzen vertraut zu machen. Dazu sind wir regelmäßig in einen intensiven Austausch gegangen, der dazu geführt hat, dass wir mehr und mehr zu einer gemeinsamen Sprache kommen konnten und Vorträge und Paper mittlerweile kollaborativ entstehen. Wir haben uns als Forscher*innen weiterentwickelt und sehen, dass die Synthesearbeit gelingt.
Darüber hinaus hat sich nicht zuletzt auch die Umgebungssituation unseres Forschens weiterentwickelt. Zu Beginn unserer Projektarbeit waren wir noch „mittendrin“ im Pandemiegeschehen. Wöchentlich gab es neue Entwicklungen, Stellungnahmen und auch wissenschaftliche Studien und Veröffentlichungen. Eine retrospektive Haltung auf den Forschungsgegenstand einzunehmen, war damit quasi unmöglich. Das haben natürlich insbesondere die Kolleginnen erfahren, die die Interviews geführt haben: Die Einschätzung der eigenen Rolle durch die befragten Wissenschaftler*innen hat sich im Laufe der Zeit klarer Weise gewandelt. Und dann kam irgendwann der Punkt, zu dem in der Öffentlichkeit das Thema weniger virulent wurde, es politisch auch immer weniger Aufmerksamkeit fand. Diese „Ruhe“ ist einerseits förderlich, um das Wechselverhältnis von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit während der akuten Phase der Pandemie nun ex post aufzuarbeiten. Andererseits nehmen wir auch eine gewisse Ermüdung wahr, sich überhaupt noch damit auseinanderzusetzen. Um aber als Gesellschaft vorbereitet zu sein und eine pandemic preparedness auszubilden, braucht es eine gründliche (selbst-)reflexive Aufarbeitung – das war auch Konsens in unserem fachübergreifenden Workshop zum Thema „Welches Wissen (und welche Wissenschaft) braucht die Politik?“, der Mitte Februar 2023 an der HFPH stattgefunden hat. Eine spannende und bleibende Aufgabe wird es daher sein, öffentliche Reflexionsräume bereitzustellen, in denen darüber diskutiert und durchaus auch gestritten werden kann, was die Wissenschaften in all ihrer Pluralität leisten können und wie politische Entscheidungsprozesse (idealerweise) ablaufen. Die oft implizit an bestimmte Vorverständnisse geknüpften Erwartungen, so hat sich gezeigt, führen zu Konfliktlinien, die gesamtgesellschaftlichen Lernprozessen eher im Wege stehen.
Zur Person: Ana Honnacker hat Philosophie, katholische Theologie und allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Münster studiert und war zunächst am dortigen Exzellenzcluster „Religion und Politik“ tätig. 2009 wechselte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin ans Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt und wurde 2014 am Fachbereich Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt mit einer Arbeit über William James promoviert. Im Anschluss war sie bis 2020 wissenschaftliche Assistentin des Direktors am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Seit 2008 lehrt sie an verschiedenen deutschen Universitäten, u. a. in Münster und Hildesheim und ist im Executive Board des German Pragmatism Network tätig, das sie 2017 mitgegründet hat. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der politischen Philosophie, sowie der Religions- und Umweltphilosophie. Seit Oktober 2021 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für das auf drei Jahre angelegte Projekt „PoSEvi“ an der HFPH.