„Politische Philosophie und Sozialphilosophie können uns helfen, Antworten zu entwickeln, die nicht bloß der Symptombehandlung dienen.“

Aktuell steht unsere Demokratie auf dem Prüfstand. Welchen Beitrag kann die Politische Philosophie in Zeiten wie diesen zur Stärkung einer demokratischen Gesellschaft leisten? Welche Neuigkeiten aus der Praktischen Philosophie werden in Zukunft wegweisend sein? — ein Interview mit Prof. Dr. Michael Reder, Professor für Praktische Philosophie an der HFPH.

Prof. Dr. Michael Reder, Copyright: HFPH/ K. Kleiß

Wir erleben gerade in den vergangenen Wochen eine weitere Polarisierung unserer Gesellschaft – die Recherchen von CORRECTIV und die Gegenbewegung fallen direkt auf. Was würden Sie sich aus dem Blickwinkel der politischen Philosophie und der Völkerverständigung für unseren Umgang miteinander wünschen?

Die durch das CORRECTIV Netzwerk aufgedeckten Pläne und rechtsextremen Inhalte sind schockierend, sie sind moralisch wie politisch inakzeptabel. Aus der Perspektive der Völkerverständigung, die davon ausgeht, dass wir als Menschheit nur dann in Frieden leben und unser Potenzial entfalten können, wenn wir soziale und kulturelle Pluralität anerkennen und bereit sind, voneinander zu lernen, führt uns das vor Augen, wie wenig selbstverständlich oder gesichert Toleranz und Offenheit sind. Auch in einem demokratischen Rechtstaat ist es eine dauerhafte Aufgabe, Demokratie als Lebensform und Haltung zu kultivieren. Natürlich wünsche ich mir, dass wir als Gesellschaft zu mehr Toleranz, Weltoffenheit und Solidarität finden. Aber solche Appelle verkommen allzu leicht zu moralischen Selbstvergewisserungsfloskeln. Deshalb ist es für uns eine demokratische Kernaufgabe, nicht nur mit erhobenem Zeigefinger auf die Anderen zu zeigen, sondern auch die eigene Praxis und die Einrichtung der Gesellschaft immer wieder kritisch zu hinterfragen.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben, was das heißen kann. Dass wir uns über die von den Verschwörer*innen in Potsdam geschmiedeten Pläne empören, ist richtig und wichtig. Gleichzeitig weisen sozialpsychologische Studien wie die „Mitte-Studie“ seit Jahrzehnten konsistent nach, dass autoritäre, antidemokratische und sogar rechtsextreme Überzeugungen keineswegs randständige Phänomene sind, sondern in der sogenannten „Mitte“ der Bevölkerung fest verankert sind. Dass das so ist, hat mit sozialen Pathologien zu tun: mit Anerkennungsproblemen, Verteilungsdysfunktionen, Demokratiedefiziten. Die Politische Philosophie und Sozialphilosophie können uns helfen, diese Pathologien besser zu verstehen und Antworten zu entwickeln, die nicht bloß der Symptombehandlung dienen.


Welche Forschungsthemen werden Sie und Ihr Team in den kommenden Jahren beschäftigen?

Ich möchte Ihnen drei Schwerpunkte für die kommenden Jahre nennen.

Zum einen ist da der Themenkomplex "Vulnerabilität – Solidarität", der mich und uns schon lange beschäftigt. So bereite ich derzeit einen größeren Forschungsantrag vor, der das Thema Vulnerabilität aus politischer und sozialphilosophischer Perspektive in den Blick nehmen soll. Spätestens seit der Pandemie ist klar, dass Vulnerabilität auch eine politische Bedeutung hat – aber die philosophischen Tiefendimensionen sind hier noch unerforscht. Mein Ziel ist es, Vulnerabilität als Kernbegriff der kritischen Sozialphilosophie zu beschreiben und sein emanzipatorisch-politisches und demokratietheoretisches Potenzial freizulegen. Durch das Prisma der Vulnerabilität möchte ich auch auf bereits bestehende Schwerpunkte am Lehrstuhl eine neue Perspektive gewinnen: Wie hängen Vulnerabilität und Demokratie zusammen? Wie wird heute Vulnerabilität global ungleich verteilt? Kann der Vulnerabilitätsbegriff als Hebel für eine Gesellschaftskritik dienen? Kann man künftige Generationen als vulnerabel beschreiben?

Zum anderen gehen wir gerade mit einem Forschungsprojekt auf die Zielgerade, dass sich mit einer aktuellen Herausforderung der Demokratie, nämlich dem Verhältnis von Wissen(schaft) und Politik beschäftigt. Mein Wunsch ist es, dieses Thema weiter zu bearbeiten, denn wir sind als Gesellschaft und auch als wissenschaftliche Gemeinschaft noch weit davon entfernt, es zu durchschauen. Und in eigentlich allen Krisen der Gegenwart zeigt sich, welche große politische Bedeutung wissenschaftlichen Erkenntnissen zukommt. Dabei haben wir aber oftmals ein vereinfachtes Bild von Wissenschaft, das der Pluralität von Wissensformen nicht gerecht wird und die in wissenschaftlichen Praktiken angelegten Machtverhältnisse ausblendet. – und eben auch ein vereinfachtes Bild von Politik.

Last but not least: die sogenannte Künstliche Intelligenz ist ein Thema, an dem man zurzeit nicht vorbeikommt. Auch mein Team und ich beschäftigen uns schon länger mit ChatGPT & Co. Nachdem Anfangs Fragen nach den ethisch-normativen Implikationen dieser potenziell disruptiven Technologien kaum Resonanz fanden, gibt es hierzu inzwischen glücklicherweise einen breiteren Diskurs. Dabei fällt uns jedoch immer wieder auf, dass die Frage nach den politischen Dimensionen der KI kaum aufgeworfen wird. Hier sehe ich eine wichtige und offene Aufgabe für die politische Philosophie für die kommenden Jahre.

In welcher Weise werden diese Themen auch auf die Lehre Einfluss haben? Auf was dürfen sich die Studierenden freuen?

Mir ist die vielberedte Einheit von Forschung und Lehre besonders wichtig. Meine Seminare und Vorlesungen bilden zumeist auch aktuelle Forschungsinteressen ab. Es geht beispielsweise um die Repräsentation zukünftiger Generationen (zu dem Thema schreibe ich gerade ein Buch mit einem australischen Kollegen) oder um die bereits skizzierte Vulnerabilität. Das ist nicht nur uneigennützig gedacht: Manche Fragestellungen entwickeln sich ja auch erst im Gespräch mit Studierenden.

Mein Team und ich versuchen außerdem, unsere Tagungen und Workshops so zu gestalten, dass sie auch für interessierte Studierende spannend und zugänglich sind. So planen wir beispielsweise im Sommer (24.6.2024) einen Workshop mit Alexis Shotwell und im Herbst (17.–19.10.2024) eine größere Tagung zum Thema „Praxis – Kritik – Transformation“, bei der Sozialkritik und pragmatistische Perspektiven zusammengedacht werden sollen. Wir hoffen natürlich, dass das für den rebellischen Geist der Studierendenschaft nicht ganz uninteressant ist.

 
Am Ende des vergangenen Jahres ist der Stifter des Lehrstuhls für Völkerverständigung verstorben. Wie werden Sie dieses Thema weiter profilieren?

Der Tod von Herrn Six hat uns alle außerordentlich berührt. Er hat den Lehrstuhl über Jahrzehnte unglaublich großzügig ideell und finanziell unterstützt, wofür mein Team und ich voller Dank sind. Die Six-Stiftung wird weiterhin hinter der Hochschule stehen, und ich fühle mich Herrn Six’ Vermächtnis und dem Anliegen der Völkerverständigung zutiefst verbunden.

Völkerverständigung – der Ausdruck mag heute veraltet erscheinen. Das liegt daran, dass, als man den Ausdruck prägte, man einen statischen Begriff von Völkern und Gesellschaften hatte – das ist heute anders. Doch die eigentliche Idee darin ist brandaktuell und vielleicht wichtiger denn je, wir sahen es ja schon bei dem Beispiel des erstarkenden Rechtsextremismus. Für mich besteht sie im Kern aus dem Anliegen, Vorurteile abzubauen, Toleranz zu schaffen, Gesprächsräume zu eröffnen, Brücken zu bauen. Das ist gerade innerhalb pluralistischer Gemeinwesen und einer globalisierten, wenngleich vielfach gespaltenen internationalen Gemeinschaft ganz entscheidend. Gleichzeitig wird die Verständigungsidee durch zahlreiche Krisen und Konflikte überlagert und erschwert. Deshalb gehört es zu meinem Begriff von Völkerverständigung dazu, auch die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit – also die sozialen Pathologien, Ungleichheiten usw., die ihre Verwirklichung erschweren – zu reflektieren.

Ich verstehe es als Auftrag des Lehrstuhls, hierzu durch philosophische Forschung beizutragen: durch Grundlagenforschung, durch kritische Analyse gegenwärtiger Krisen, und nicht zuletzt durch integrative Gesprächsformate, bei denen der sprichwörtliche Elfenbeinturm verlassen und der Austausch auf Augenhöhe mit Akteuren aus Politik und Gesellschaft gesucht wird.


2025 wird unsere Hochschule 100 Jahre alt. Was ist Ihre liebste Erinnerung, die Sie mit der HFPH verbinden?

Es sind zwei Erinnerungen, die ich besonders lebhaft vor Augen habe. Zum einen haben wir 2007 mit Jürgen Habermas über seine Vorstellung einer postsäkularen Gesellschaft in der Aula diskutiert. Jürgen Habermas hat einen kurzen Input gegeben und dann haben ich und drei Kolleg*innen darauf geantwortet und es hat sich daraus eine sehr anregende und produktive Diskussion entwickelt. Zu sehen, wie einer der wichtigsten lebenden Philosophen sich neugierig und offen auf jeden Gedanken einlässt und bereit ist, diesen zu diskutieren, hat mich sehr beeindruckt.

Zweitens denke ich sehr gerne an die Tage der Semestereröffnungen der vergangenen Jahre zurück. Die ersten Sitzungen von Proseminaren in Wintersemestern sind etwas ganz Besonderes: wenn junge Menschen einem gegenübersitzen, die ganz unvoreingenommen und neugierig auf die Philosophie schauen und ihren philosophischen Weg beginnen. Es ist eine große Ehre für mich, diese Menschen durch meinen Beruf auf ihrem Weg zu begleiten. Dafür bin ich sehr dankbar.

 

Aktuelle News: Am 16.02.2024 wurde im Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst die Bayerische Wissenschaftsallianz für Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschung gegründet. Michael Reder ist einer der principal investigators dieser Allianz. Weiteres erfahren Sie in diesem Jahr auf den Kanälen der HFPH.

 

Zur Person:

Prof. Dr. Michael Reder hat den Lehrstuhl für Praktische Philosophie mit dem Schwerpunkt Völkerverständigung an der Hochschule für Philosophie München (HFPH) inne. Darüber hinaus ist er seit 2021 Vizepräsident für Forschung an der HFPH.
Im Sommersemester 2024 wird Prof. Reder ein Forschungsfreisemester in New York verbringen.
Weitere Informationen zu Professor Reder, seinen Forschungsprojekten und dem Team des Lehrstuhls finden Sie über das Lehrendenprofil des Wissenschaftlers: www.hfph.de/reder