Philosophisch-ethische Reflexion als zentrales Moment wissenschaftlichen Selbstverständnisses

Als Professor für Naturphilosophie verstärkt Benjamin Rathgeber ab dem 1. Oktober 2020 für 18 Monate das Team des Instituts für naturphilosophische Grenzfragen zur Philosophie und Theologie (ING). Wir haben mit dem habilitierten Philosophen über seine bisherige Forschung, Philosophie und Ethik in interdisziplinärer Forschung und den Schwerpunkt seiner Professur, „Natur und Geist“, gesprochen. Ihm, allen Lehrenden und Studierenden wünschen wir einen guten Start in das kommende Wintersemester.

Prof. Dr. Benjamin Rathgeber

Ihre Vita und Ihre Arbeit am Karlsruher Institut für Technologie sind von einer gelebten Interdisziplinarität geprägt. Warum sind aus Ihrer Sicht Philosophie und Ethik für Interdisziplinarität wichtig?

Interdisziplinarität ist ja in der heutigen Zeit fast zum Modewort herabgesunken, welches in mancher Hinsicht inflationär gebraucht wird. Umso wichtiger erscheint es mir aktuell, ein bewusstes Verständnis über die Bedeutung und Relevanz, Grenzen und Reichweite interdisziplinärer Zusammenarbeit explizit zu klären. Genau hier spielt Philosophie eine zentrale Rolle. Dies gilt sowohl intern als auch extern. Intern bedeutet an dieser Stelle, dass die Philosophie in der Reflexion auf die sprachlichen Bedingungen zur gelingenden Kommunikation zwischen den Disziplinen beitragen und damit eine vermittelnde Funktion für eine erfolgreiche Interdisziplinarität leisten kann. Darüber hinaus hat sie – als Reflexionsdisziplin – die externe Funktion, die jeweiligen Geltungsansprüche in den Wissenschaften genau zu klären und in ein „Gesamtbild“ wissenschaftlichen Erkennens zu überführen. Gerade in der heutigen Zeit, in der die Wissenschaften gesellschaftlich immer häufiger in Frage gestellt werden und nur noch bestimmten Spezialist*innen zugänglich zu sein scheinen, ist diese zusammenführende und übergreifende Funktion zentral. Nur dadurch kann das „große Bild“ des wissenschaftlichen Bemühens transparent vermittelt werden, welches den immanenten Anspruch der Philosophie auf umfassende Aufklärung einlösen kann.

Hier wird auch die interdisziplinäre Funktion der Ethik deutlich. Ethik und Moral sind ja die Disziplinen, welche die normativen Fragen aufwerfen, wie richtiges Handeln und gelingendes Leben zu gestalten sind. Es betrifft also die Soll-Werte unseres Denkens und Handelns in unserer heutigen Gesellschaft. Diese Fragen dürfen nicht nur additiv zu den anderen Wissenschaften hinzugefügt werden, sondern müssen zentrale Momente wissenschaftlichen Selbst-Verständnisses werden. Gerade was aktuelle Fragen z. B. in Hinsicht auf den Klimawandel und die Digitalisierung betrifft, zeigt sich die Notwendigkeit ethischer Reflexionen. Hier muss genau geklärt werden, was moralisch geboten ist, um diese tiefgreifenden Transformationsprozesse verantwortungsbewusst zu gestalten. Nur dadurch kann ein ganzheitlich ausgerichtetes Aufklärungsprojekt im 21. Jahrhundert gelingen.

 

In der Nachwuchsforschergruppe „Autonome Systeme“ setzen Sie sich u. a. mit der „Beurteilung von kooperativen Mensch/Technik-Schnittstellen“ auseinander. Wo sehen Sie hier die größten Chancen und Risiken?

Technik hat ja schon von jeher die Funktion gehabt, den Menschen in seiner Lebensführung und Lebensgestaltung zu ermächtigen. Das reicht von der Selbsterhaltung durch einfachste Werkzeuge und Techniken der Nahrungsbeschaffung bis hin zu komplexesten Verfahren in der Raumfahrt oder Digitalisierung. Diese Prozesse der Technisierung haben einen Spielraum an Freiheiten eröffnet, der immer wieder neue Dimensionen erschließen konnte. Mit den „technischen autonomen Systemen“ betreten wir jetzt eine Stufe der technischen Erschließung unserer Welt, die diesen autonomen Freiheitsspielraum selbst betrifft. Hier liegt einerseits ein unglaubliches Potenzial an Möglichkeiten, das die Menschheit von mühselig auferlegten Arbeitsprozessen befreit und die Chancen für ein selbstbestimmtes und kreatives Leben vergrößern kann: beispielsweise in der Automatisierung von Mobilitäts- und Produktionsprozessen im Rahmen von Industrie 4.0. Andererseits erfahren wir jedoch umgekehrt, dass unsere Freiheitsspielräume immer stärker eingeschränkt werden. Wir erleben uns in eine Maschinerie eingebunden, deren Systemzwängen wir uns – scheinbar – nicht mehr entziehen können. Hier liegt die Dialektik dieser Technisierung: In dem großen Potenzial der Automatisierung liegt ein Angriff auf unsere eigene Autonomie. Die philosophisch-ethische Aufgabe besteht also darin, diese Prozesse transparent und verstehbar zu gestalten sowie normative Richtlinien zu bestimmen, wie verantwortungsbewusst mit diesen mächtigen Werkzeugen umzugehen ist. Entscheidend wird dabei sein, dass wir die technischen Mittel nicht zum (Selbst-)Zweck werden lassen, sondern sie als das begreifen, was sie sind, – nämlich Werkzeuge unserer eigenen autonomen Selbstbestimmung. Hier liegt die Aufklärungsfunktion der Technik- und Wissenschaftsphilosophie sowie der Ethik und Moralphilosophie, die im wechselseitigen Zusammenspiel gesellschaftlich gefordert sind.

 

Sie arbeiten zu künstlichen autonomen Systemen. Glauben Sie, dass es einen kategorialen Unterschied zwischen künstlichen autonomen Systemen und evolutiv entstandenen autonomen Systemen gibt.

So gerne ich hier eine eindeutige Antwort geben möchte, so problematisch erscheint es mir, an dieser Stelle mit Ja oder Nein zu antworten. Eine kategoriale Unterscheidung würde suggerieren, dass es sich hier um zwei völlig verschiedene Entitäten handelt, was ich bestreiten würde. Eine Verneinung dieser Frage würde allerdings die Differenzen einebnen, die für die verschiedenen Formen von autonomen Systemen leitend sind. Deshalb würde ich hier lieber eine dritte Strategie präferieren, welche auf die unterschiedlichen Verwendungsweisen von Autonomien (bei autonomen Systemen) hinweist und deren Verhältnisse zueinander expliziert.

 

Welche Verwendungsweisen des Begriffs „Autonomie“ halten Sie für wichtig?

Der Ausdruck „Autonomie“ kann ganz unterschiedlich verstanden werden. Das hängt jeweils davon ab, was man unter diesem „auto-“ (von gr. „autós“ für „selbst“) bei dem Wort „Auto-nomie“ versteht. Hier lässt sich ein ganzes Spektrum von unterschiedlichen Bedeutungen ausmachen: Dieses reicht von der eher schwachen Verwendung von „autós“ im Sinne von „automatisch“ (d. h. im Sinne von „selbstständig“ bzw. „ohne Einwirkung von außen“) bis hin zu einer sehr starken Bedeutung, bei der die Subjektfunktion des „Selbst“ im Zentrum steht. In dieser Bedeutung gibt sich eine Gemeinschaft, ein Staat oder auch eine Person selbst ein Gesetz (gr. „nómos“). Das Subjekt macht sich in dieser Bestimmung – reflexiv – zum Objekt der eigenen Gesetzgebung. Erst hier können wir von einer umfassend entwickelten Autonomie sprechen. Gemeinschaften oder Personen können in diesem Sinne selbstgesetzgebend als Subjekte wirken. Sie können sich eigene Zwecke setzen und Regeln auferlegen, an die sie sich halten.

Autonome technische Systeme können das nicht. Sie setzen sich keine Zwecke – und schon gar nicht sich selbst. Vielmehr sind sie als technische Werkzeuge von uns Menschen für bestimmte Zwecke konzipiert. Insofern sie zwar mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind und dadurch komplexe Prozesse eigenständig durchführen können, sind sie zwar in diesem vorgegebenen Rahmen als autonom zu bezeichnen. Da sie aber nur innerhalb der vorgegebenen Zwecke ohne äußere Einwirkung operieren, sind sie bloß in einer schwachen Bedeutung als autonom zu begreifen.

 

Ihre Professur hat den Schwerpunkt „Natur und Geist“. Wie wollen Sie diesen Schwerpunkt in Lehre und Forschung an der HFPH ausfüllen?

Das Verhältnis von „Natur und Geist“ wirft ja die großen Fragen und Rätsel in der Philosophiegeschichte auf (wie z. B. die Frage nach dem, was eigentlich Selbst-Bewusstsein ist) und betrifft in gewisser Weise alle philosophischen Disziplinen. Dementsprechend lassen sich hier ganz unterschiedliche Schwerpunkte legen, die von verschiedenen Fragestellungen motiviert sind. Ich möchte in meiner Forschung einen zentralen Schwerpunkt auf das Verhältnis zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz legen – hier insbesondere auf das Verhältnis von instrumenteller Vernunft und künstlichen neuronalen Netzen (KNN). Hierzu arbeite ich gerade in einem interdisziplinären Projekt zur durch künstliche Intelligenz gesteuerte Forschung in der synthetischen Biologie, welches die Verarbeitungsprozesse von KNN in der medizinischen Proteinanalyse aufzuschlüsseln versucht. Als besonders spannend erlebe ich in diesem Projekt, dass wir in der Auseinandersetzung mit der Funktionsweise von KNN etwas über die Art und Weise begreifen, wie wir unsere eigene Vernunft verstehen können. Darin liegt sowohl eine immanente Aufklärung über unser eigenes rationales Selbstverständnis, zugleich aber auch die kritische Analyse über die darin liegenden Verkürzungen, die ein Verständnis von Vernunft in einem instrumentellen Sinne impliziert.

In meiner Lehre möchte ich einerseits diese spezifischen Forschungsfragen einfließen lassen, andererseits aber die ideengeschichtlichen Entwicklungs- und Transformationslinien mit den Studierenden gemeinsam rekonstruieren, in die diese Debatten eingebettet sind. Nur dadurch lassen sich die „großen“ Zusammenhänge umfassend verstehen und die aktuellen Diskurse präzise begreifen. Das möchte ich an Themenschwerpunkten zu autonomen Systemen, dem Verhältnis von Kognition und künstlicher Intelligenz sowie zu Raum-Zeit-Konzepten durchführen. Es umfasst also Themenbereiche der Naturphilosophie, der Philosophie des Geistes (Philosophy of Mind), der Technik- und Wissenschaftstheorie sowie deren ethischen Implikationen. Zentral erscheint mir dabei immer, dass hier nicht nur Formen der Wissensvermittlung stattfinden, sondern die Voraussetzungen geschaffen werden, die historischen und systematischen Bedingungen dieser Themenschwerpunkte selbst zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Nur dadurch kann ein erfolgreicher Gebrauch der eigenen philosophischen Urteilskraft der Studierenden maßgeblich erweitert werden, welcher einen ethisch-aufgeklärten und verständigen Umgang mit den jeweiligen Wissensbeständen in den Technik- und Naturwissenschaften ermöglicht.

 

Wie ist Ihr erster Eindruck von der HFPH?

Mein erster Eindruck von der HFPH ist absolut positiv. Dies gilt sowohl für die kollegiale Zusammenarbeit als auch die ausgesprochen gute Infrastruktur und Organisation. Ich erlebe die HFPH als ein Forschungs- und Lehrzentrum, welches auf höchstem Niveau sowohl ein breites und systematisch abgestimmtes Lehrangebot umfasst, als auch eine Vielschichtigkeit und hohe Qualität in der Forschung erfüllt, die zu wesentlichen Lösungsansätzen in aktuellen Forschungsfeldern beitragen. Dies betrifft gleichermaßen die unterschiedlichsten Themenschwerpunkte der praktischen als auch der theoretischen Philosophie. Sowohl systematisch wie auch historisch werden hier die zentralen Entwicklungslinien der philosophischen Tradition behandelt, was ein ausgezeichnetes Studium und vielschichtiges Weiterbildungsangebot ermöglicht. Besonders bemerkenswert erlebe ich dabei, dass die Hochschule aktuelle und gesellschaftlich relevante Schwerpunkte setzt, sich den sozialen Herausforderungen stellt und gesellschaftliche Entwicklungs- und Transformationsprozesse konstruktiv begleitet und mitgestaltet. So leistet also die HFPH genau das, was Philosophie leisten soll – echte gelebte Geistigkeit.

 

Benjamin Rathgeber ist seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), u.a. in der Nachwuchsforschergruppe „Autonome Systeme“. Nach seiner Promotion zum Thema „Modellbildung in den Kognitionswissenschaften“ im Jahr 2010 wurde er 2016 mit einer Arbeit zum begrifflichen Spannungsverhältnis von Freiheit und Autonomie an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften des KIT habilitiert. Arbeits- und Forschungsaufenthalte führten ihn unter anderem an die New York University. In Kooperation mit der Universität Heidelberg arbeitet Rathgeber zurzeit an einem interdisziplinären Forschungsprojekt über den Einsatz von durch künstliche Intelligenz gesteuerter Forschung im Bereich der synthetischen Biologie.