Der erste Sake, den mir mein Gastgeber mit einer Unbekümmertheit einschenkte, hinter der man große Hingabe vermuten durfte, floss so selbstverständlich über den Rand des gekühlten Glases und in den hohen, schwarzlackierten Unterteller, dass es eine Freude war. Die Stimmung des Workshops in den Räumen des Goethe-Instituts in Kyoto war damit gesetzt: Reichhaltigkeit bis zum Überfluss.
Schon Mitte 2020 sollte es zum Anlass des 150. Geburtstags Kitaro Nishidas, dem Begründer der sogenannten Kyoto-Schule, und des 120. Geburtstags seines wohl berühmtesten Schülers, Keiji Nishitani, in die Stadt am Uji gehen. Aber der Oni lacht, wenn man Pläne macht. Und so konnten sich erst im Oktober 2022, auf Einladung der Internationalen Nishida-Gesellschaft und des Japanisch-Deutschen-Kulturinstituts, 16 Forscherinnen und Forscher zwei lange Tage in Kyoto zusammenfinden. In vier Tagungssprachen (Japanisch, Englisch, Deutsch und Französisch) wurde das Denken zweier Philosophen ins Zentrum gerückt, die nicht nur maßgeblich an der Gestaltung der philosophischen Kultur Japans im 20. Jh. beteiligt waren. Die philosophischen Herausforderungen, die sie durch eine gleichermaßen intime Kenntnis der europäischen Tradition für eben diese darstellen, warten nach wie vor auf angemessene Antwort.
Schon im Eröffnungsvortrag von Katsuya Akitomi (Kyoto Institute of Technology), der die Probleme der Geschichte und Technik bei Nishida und Nishitani vor dem Hintergrund ihrer Schlüsselbegriffe des ‚absoluten Nichts‘ (zettai mu) bzw. der ‚Leere‘ (śūnyatā, kū) ausbuchstabierte, wurde deutlich, wie fruchtbar die philosophische Auseinandersetzung mit buddhistischem Denken für das Verständnis und vielleicht die Verwandlung der nach wie vor nihilistischen Tendenz im Selbstbild moderner und nachmoderner Kulturen sein kann.
Michiko Yusa (Western Washington University) machte in ihrem Beitrag wunderbar anschaulich, wie das Ringen um eine eigenständige moderne Kunstauffassung dem Japan der Jahrhundertwende nicht nur, wie oft angenommen, eine zuweilen epigonenhafte Tradition westlichen Stils (yōga) und eine nachdrücklich restaurative Malerei japanischen Stils (nihonga) einbrachte. An dem Verhältnis von Kitaro Nishida und Hishida Shunsōs zeigte sich, wie solche vulgären Dichotomien angesichts der Aufgabe wirklicher ästhetischer Durchdringung des malerischen Materials in den Hintergrund treten müssen.
Als Übersetzerin der Texte Nishidas und Nishitanis führte Raquel Bouso Garcia (Universitat Pompeu Fabra) in ihrem Beitrag tief in eine hermeneutische Grundproblematik interkulturellen Philosophierens. Das Panoptikum der europäischen Übersetzungsprojekte, das sie vor unseren Augen entfaltete, machte einerseits das wachsende Interesse an der Kyoto-Schule deutlich. Andererseits gab es Anlass, an ausgewählten Beispielen einige zentrale Probleme der Übertragung japanischer Termini en détail zu analysieren.
Ryosuke Ohashi (Japanisch-Deutsches-Kulturinstitut) gab in einem faszinierenden Vortrag Einblick in seine Forschung zu Hegels Wissenschaft der Logik. Der Fokus lag dabei auf dem Hegel’schen Begriff der ‚Durchsichtigkeit‘ und dem Mahayana-buddhistischen Terminus soku (in etwa: ‚zugleich‘), den Nishitani zur Kennzeichnung der wechselseitigen Durchdringung von Sein und Leere (u-soku-mu) bzw. von Erscheinung und Leere (shiki-soku-ze-kû) gebraucht. Mit Blick auf Hegels Einsicht, die Identität des Absoluten komme gerade dadurch zum Ausdruck, dass jede (logische) Bestimmtheit auf das Ganze des Absoluten hin durchsichtig wird, ergibt sich ein philosophischer Brückenschlag, der zu fortschreitender Vertiefung einlädt.
Ich selbst hatte die große Freude einige Gedanken zu dem Problem einer nicht-dualen Ontologie vorzustellen, die wie alle systematischen Ordnungen eine Schwierigkeit kennt: Sie hat Voraussetzungen, die sie innerhalb ihres Systems nicht darstellen kann. Während dieses Problem für die meisten theoretischen Anliegen trivial ist, verweist es in den nicht-dualen Philosophien Śaṅkaras und Nishitanis hingegen auf ein zentrales Moment ihres Philosophierens: Ihr Denken ruht auf einer radikalen Wende der Erfahrung, deren existenzielle Dimension in ihren Sätzen zwar nicht zur Darstellung, aber sehr wohl zum Ausdruck gebracht werden kann. Das Verhältnis von ‚Personalität‘ und ‚Impersonalität‘ erlaubt es, diesem Ausdruck nachzugehen.
Yasuhiko Sugimura (Kyoto University & École normale supérieure) entwickelte in seinem Abschlussvortrag eine neue Perspektive auf Nishitanis Programm einer „Überwindung des Nihilismus durch eben diesen Nihilismus“. Er reagierte damit auf eine Interpretation, der zufolge Nishitani diese Überwindung in einer vom Zen-Buddhismus inspirierten Religiosität angelegt sah, die ihrerseits eine „Überwindung“ philosophischer Denk- und Denkungsart zu vollziehen hätte. Im Beitrag wurde demgegenüber deutlich, dass mit der Figur der Überwindung keiner überzeitlichen Ablösung von den Verfahren (westlicher) Philosophie das Wort geredet wird, sondern ein Weckruf an ihre kreativen Potenziale zur Sprache kommt.
Die Sorgfalt und Selbstverständlichkeit, mit der in diesem Workshop Sprach-, Kultur- und Verständnisgrenzen mal gelten, mal offengelassen, mal überwunden werden konnten, erzeugten eine Stimmung, die menschliche und philosophische Auseinandersetzung in der fruchtbaren Zumutung wechselseitiger Fremdheit möglich machte.
So boten die Tage im frühherbstlichen Kyoto die Aussicht, dass das Projekt einer ausdrücklich interkulturellen Philosophie vielleicht – einmal – überflüssig sein könnte.
Dr. Robert Lehmann
Robert Lehmann (vordere Reihe, ganz rechts) mit den weiteren Teilnehmer*innen des Workshops in Kyoto; Copyright: Yuki Taruta
Weitere Informationen
- Webseite von Dr. Robert Lehmann
- Webseite des Lehrstuhls für Intercultural Social Transformation (IST) von Prof. Dr. Barbara Schellhammer
Dr. Robert Lehmann wird im Sommersemester 2023 einen Lesekreis zur japanischen Philosophie im 20. Jh. anbieten. Nähere Informationen folgen.
Die Teilnahme an dieser Tagung wurde von pro philosophia e.V. gefördert