„Philosophie der Grenze“ – Grenzgänge erleben mit Theater und Fotografien (ein Nachbericht)

Die Figur Frau Fröhlich steht auf der Bühne, von links flüstert ihr eine Stimme zu, „dein Job erfüllt dich“. Sie arbeitet hart. Je länger, desto müder und ausgelaugter ist sie. Als schließlich ihr Kollege kommt und fragt „Frau Fröhlich, ich habe hier noch einen Stapel Arbeit für Sie. Das schaffen Sie heute noch, oder?“, blickt sie nach links. Die Gestalt neben ihr nickt und auch Frau Fröhlich nickt. Aber wann kommt sie an ihre Grenzen?

Teilnehmerinnen des Forumtheater-Workshops auf der Bühne; Copyright: Peter Hoffmann-Schoenborn

Mit einem Hauptseminar zum Thema Philosophie der Grenze – im Selbst, der Gesellschaft und der Mitwelt von Prof. Dr. Barbara Schellhammer, Professorin für Intercultural Social Transformation und Lena Schützle, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Globale Fragen an der Hochschule für Philosophie München (HFPH), fing 2021 alles an. Der Kurs beschäftigte sich mit Fragen, wie: Wodurch zeichnen sich Grenzsituationen aus? Wie zeigt sich die Ambivalenz von Grenzen in unterschiedlichen Kontexten und wie gehen Menschen damit um? Wie lassen sich „gute“, lebensdienende Grenzen fördern und „schlechte“, menschenverachtende Grenzen überwinden? Wie kann man zwischen beiden unterscheiden? Aber auch: Was sind Grenzen der Philosophie? Wie können wir nicht nur über, sondern auch auf der Grenze oder über sie hinaus philosophieren?

„Das Thema führte zu so vielen spannenden Gesprächen und Gedanken, dass wir dachten, daraus wollen wir ein Buchprojekt starten“, berichtet Lena Schützle am Abend des 30. November 2022, der Buchvorstellung des Werks „Philosophie der Grenze“ mit Fotoausstellung und Theatervorführung. 60 Einreichungen folgten auf den Call for Papers der beiden Wissenschaftlerinnen. Darunter sind Paper von Studierenden im Bachelor und Master, von Doktorand*innen und Professor*innen unterschiedlichster Disziplinen – zum Beispiel der Ethnografie, Germanistik, der Sozialen Arbeit und vielen mehr. Auch drei Studierende aus dem besagten Hauptseminar reichten ihre Seminararbeiten ein. Am Ende waren es Aufsätze von insgesamt 29 Autor*innen, 15 Frauen, 14 Männern, die ihren Platz in dem Buch gefunden haben. Aber auch Fotografien lassen sich in dem Band finden: Tanzfotografien.

 

Tanzen – eine Grenzerfahrung?

„Stellen Sie sich bitte einen großen Raum vor, einen Saal, eine Halle und einen Sound, der aus den Wänden dröhnt. Stellen Sie sich Dunkelheit vor. 600 Personen sind in diesem Raum. Nicht irgendwo sitzend, sondern wandelnd durch den Raum. Und stellen Sie sich dazwischen 120 Tänzerinnen und Tänzer gänzlich unbekleidet – neben ihnen, zwischen ihnen, hinter ihnen, überall – vor. Wie fühlen Sie sich? Sie versuchen vielleicht auf Distanz zu gehen, bloß keine*n berühren, bloß nicht hinsehen oder doch hinsehen.“

In der Performance Habitat von Doris Uhlich, in die der Fotograf und Künstler Peter Hoffmann-Schoenborn die Anwesenden des Abends hier in seinem Impuls gedanklich mitnahm, findet nicht nur eine Grenzüberschreitung in der Ausdrucksform Tanz statt, laut Hoffmann-Schoenborn wird auch mit zwischenmenschlichen Grenzen gebrochen.
Als er den Call for Papers las, sah er darin das Skript einer Tanzchoreografie. In seinen Tanzfotografien lassen sich körperliche, gedankliche oder auch zwischenmenschliche Grenzen finden – eine passende Ergänzung für die wissenschaftlichen Texte des Bandes. Die Kunst beschreibt bildhaft Grenzsituationen, für die den Autor*innen die Worte fehlten. Denn oft stießen auch sie selbst auf sprachliche Grenzen, wie Herausgeberin Prof. Dr. Barbara Schellhammer an diesem Abend offenbarte.

 

„Wir alle sind Schauspieler“

Schon im Laufe des Tages befasste sich ein Forumtheater-Workshop unter der Leitung von Nela Adam mit dem Thema Grenze. Das Forumtheater ist eine Methode des Theaters der Unterdrückten nach Augusto Boal, bei dem jede*r zur Schauspielerin oder zum Schauspieler werden kann. Anders als die Fotografien oder der Sammelband, sollte das Theater einen praktischen Erfahrungsraum eröffnen – erlebbar sollten die „Grenzgänge“ sein . Am Ende eines einzigen Tages hatte die Gruppe schließlich zwei Szenen erarbeitet, die sie am Abend der Buchvorstellung aufführten und in denen man sich als Zuschauer*in immerzu selbst wiederfinden und die gezeigten Grenzsituationen nachempfinden konnte.

In einer der Szenen stand Frau Fröhlich im Zentrum, die den gesellschaftlichen Normen unterworfen war. Ihr Job soll sie erfüllen, ihr Ehrenamt ihr Sinn geben, Mutterschaft muss sie wundervoll finden und auch die Selbstfürsorge soll sie natürlich nicht aus den Augen verlieren.
„Stopp!“ ertönte es dann plötzlich in der Aula der Hochschule. Die Schauspieler*innen blieben stehen, waren wie versteinert. „Halt dir mal die Ohren zu“, rief eine Zuschauerin von den hinteren Reihen Frau Fröhlich zu. Anstatt alltägliche und gesellschaftliche Grenzen nur aufzuzeigen, geht das Forumtheater einen Schritt weiter. Es bietet die Möglichkeit zum Mitmachen, den Grenzen wahrhaftig zu begegnen. Die Zuschauer*innen sind eingeladen, Einfluss auf den Verlauf der gesehenen Szene zu nehmen und in die Handlung proaktiv einzugreifen. Das Publikum konnte Frau Fröhlich so im Umgang mit der jeweiligen Grenzerfahrung helfen und geeignete Lösungswege aus der misslichen Lage aufzeigen. So stand plötzlich die Zuschauerin, eine junge Studentin der HFPH, vorne auf der Bühne, die den Platz von Frau Fröhlich einnahm und sich die Ohren zuhielt. „Du musst besser sein! Schneller! Effizienter!“ – Sie ließ sich nicht von den immer wieder um sie kreisenden Stimmen einschüchtern. Auch das ist eine Art und Weise mit Grenzsituationen umzugehen – sie einfach nicht zu nah an sich heranzulassen.

von Maximiliane Hoferer

 

Über das Buch "Philosophie der Grenze"
Der Mensch ist ein Grenzwesen. Er stößt an Grenzen, reibt sich an Grenzen und geht über sie hinaus. Grenzen beruhigen und beunruhigen, sie sind notwendig und sie sind zerstörerisch. Der Band lädt dazu ein, das ambivalent-spannungsreiche Phänomen der Grenze aus philosophischer Perspektive, zu reflektieren – um schließlich Grenzen sinnvoll begegnen und sie lebensdienlich gestalten zu können.
Die Philosophie steht dabei jedoch vor großen Herausforderungen: Wie vermögen wir es beispielsweise, etwas über Grenzphänomene zu sagen, wenn wir alles, auch sinnlich oder gar spirituell Erkanntes, begrifflich fassen müssen? Die Autor*innen betreten Experimentierfelder an den Grenzen der Philosophie, wie ein bewusst leibliches oder intuitives Verstehen, Naturbegegnungen oder künstlerisch-performativer Ausdruck.
Vier Themenschwerpunkte sowie kraftvolle Tanzportraits führen durch den Band: Grenzen des Menschlichen, Grenzüberschreitungen im Zwischenmenschlichen, Politische Grenzziehungen und Grenzen (in) der Philosophie.

Link zum Buch: https://www.wbg-wissenverbindet.de/shop/42836/philosophie-der-grenze

Hinweis:
Die Fotoausstellung zu „Philosophie der Grenze“ von Peter Hoffmann-Schoenborn ist noch bis 19. Februar 2023 im Foyer vor der Aula (UG) der HFPH zu sehen.