Impuls von Prof. Dr. Georg Sans SJ
Die moderne Religionskritik beginnt mit Ludwig Feuerbach. Feuerbach beginnt mit der – fraglos zutreffenden – Feststellung, dass der Mensch alles andere als perfekt ist. Wir laufen auf zwei Beinen, aber viele von uns sind fußkrank. Die Natur hat uns einen Verstand geschenkt, aber nicht alle benutzen ihn. Wir könnten liebevoll miteinander umgehen, dennoch erleben wir Hass und Krieg.
Angesichts dieses Befundes träumt Feuerbach von dem vollkommenen Menschen der Zukunft. Der zukünftige unterscheidet sich vom heutigen Menschen keineswegs in seinem Wesen, so als müssten die Menschen erst zu Engeln werden, damit sie sich bessern. Sondern der künftige Mensch macht mehr aus seinen Möglichkeiten.
Was die Menschheit der Gegenwart daran hindert, die in ihrem Wesen angelegten Möglichkeiten zu entfalten, ist in den Augen Feuerbachs die Religion. Die Gläubigen, so Feuerbachs Analyse, ahnen zwar, was im Menschen steckt. Aber statt etwas aus sich selbst zu machen, projizieren sie die guten Eigenschaften auf ein himmlisches Wesen und verehren dieses Wesen als Gott. Gott ist gut und wir sind böse; Gott ist schlau und wir sind dumm; Gott ist ewig und wir sind sterblich.
Es wäre eine Aufgabe für Ideengeschichtler*innen herauszufinden, wie Feuerbach zu dieser Deutung gelangte. Wer das Weihnachtsevangelium kennt oder liest, wird sich verwundert die Augen reiben. Soll damit wirklich gesagt sein: Gott ist alles und wir sind nichts? Oder stimmen das Evangelium und die Religionskritik Feuerbachs in ihrer Stoßrichtung nicht vielmehr überein? Nämlich dass mehr Möglichkeiten im Menschen stecken, als wir bisher aus uns gemacht haben.
Der Religionsphilosoph Eugen Biser nennt den Menschen ein „uneingelöstes Versprechen“. Die Wege Bisers und Feuerbachs trennen sich bei der Frage, was es zur Einlösung dieses Versprechens braucht. Der Religionskritiker meint, der Mensch müsse zuerst Gott loswerden, um danach zu sich selbst zu finden. Die christliche Theologie vertraut auf die Zusage, dass Gott ein sterblicher Mensch unter uns wurde.
Einen Sohn und viele Kinder Gottes kann es nur geben, wenn Gott nicht aufhört Gott zu sein und der Mensch nicht aufhört Mensch zu sein. Sollten wir uns wirklich selbst erlösen wollen? Oder uns lieber von Gott dabei helfen lassen, zu wahren Menschen zu werden? An Weihnachten stehen wir vor der Wahl.
Prof. Dr. Georg Sans SJ
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Zur Person:
Pater Georg Sans SJ ist 1967 in Mannheim geboren. Er wurde 1993 zum Priester geweiht und ist 1994 in den Jesuitenorden eingetreten. Er war von 2006 bis 2014 Professor für Geschichte der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts an der Päpstlichen Universität Gregoriana. Heute ist er Professor für Religions- und Subjektphilosophie und Inhaber des Eugen-Biser-Stiftungslehrstuhls sowie Studiendekan der Hochschule für Philosophie. (Quelle: jesuiten.org)
Link zur Webseite von Prof. Dr. Georg Sans SJ: www.hfph.de/sans
P. Karl Kern SJ – "Friede auf Erden!"
Sie möchten noch mehr Lesestoff für die Weihnachtspause? Hier finden Sie den Beitrag "Friede auf Erden!" von P. Karl Kern SJ aus dem Weihnachtsmagazin 2023 der Mediengruppe Landshuter Zeitung/Straubinger Tagblatt.
Prof. Dr. Michael Bordt SJ – "Denken & Beten zu Weihnachten 2023"
Musik, gesungen von Lioba Braun, Stille, Texte und Impulse zum Weihnachtsfest von Prof. Dr. Michael Bordt SJ stehen im Zentrum dieser Produktion des Instituts für Philosophie und Leadership (Aufnahme und Regie: Kilian Karger) für die Reihe "Denken & Beten" in St. Sylvester (München).