„In der Rede über autonome technische Systeme liegt ein immanentes Selbst-Missverständnis“ – Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Benjamin Rathgeber

„Künstliche Intelligenz“ (KI) – ein Wort, das mit einer scheinbar unbegrenzten Breite von Bedeutungen und Erwartungen, aber auch Sorgen verbunden ist. Dystopische Untergangsfantasien, à la „Skynet“ aus den Terminatorfilmen, stehen neben Hoffnungen auf den „upload“ der eigenen Persönlichkeit in ein größeres Bewusstsein und die damit verbundene Unsterblichkeit. Es passt ins Bild dieser Debattenlage, dass jüngst berichtet wurde der KI-Ingenieur Blake Lemoine von Google sei im „Gespräch“ mit der KI „LaMDA“ zu der Einschätzung gelangt, sein digitales Gegenüber habe Bewusstsein. KI-Anwendungen beginnen aber auch in unserem Alltag eine immer größere, praktische Rolle zu spielen: von der Frage nach der Haftbarkeit selbstfahrender Autos, über die KI-gestützte Identifikation von Strafverdächtigen bis hin zu Fragen der Datenbasis in der medizinischen Diagnostik tut sich ein ganzes Füllhorn an Themen auf.

Prof. Dr. Benjamin Rathgeber, Copyright: HFPH / Jaskolla

Die Hochschule für Philosophie München (HFPH) konnte mit einer großzügigen Anschubfinanzierung aus der Hightech Agenda Bayern des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst eine neue Professur einrichten, die explizit die Philosophie der KI als Gegenstand ihrer Forschung und Lehre hat.

Prof. Dr. Benjamin Rathgeber, der seit Ende 2021 diese Professur innehat, widmete seine Antrittsvorlesung an der HFPH am 30. Juni 2022 ganz grundlegenden Fragen nach den Möglichkeiten von KI. Er entfaltete ein Forschungsprogramm, das den begrifflichen Kontrast von „Autonomie“ und „Automatisierung“ in das Zentrum einer Technik- und Naturphilosophie der KI stellt. Gerade im Angesicht der genannten, diffusen Gemengelage scheint eine solche grundlegende, philosophische Analyse wichtiger denn je.

Rathgebers Credo besteht darin, im interdisziplinären Dialog mit den Technik-, Human- und Sozialwissenschaften philosophisch rigoros, aber ergebnisoffen über KI nachzudenken: „Wir wollen kein KI-Bashing betreiben, sondern abschätzen, welche Risiken und Chancen mit KI verbunden sind“, stellte Rathgeber in seiner Antrittsvorlesung klar.

In der Herzkammer dieses Projekts scheint mir das Verhältnis von „Autonomie“ auf der einen und „Automatisierung“ auf der anderen Seite: Denn nur wer dieses Verhältnis verstanden habe, könne KI als den „Modus der technischen Beherrschbarkeit […] komplexer Systeme“ richtig beurteilen.

Um den Begriff der „Automatisierung“ auszuleuchten, zeichnete Rathgeber eine Entwicklungsgeschichte nach: diese beginnt mit der Maschinisierung zu Beginn der Industrialisierung – denken wir etwa an Spinnmaschinen, die von Wasserrädern oder Dampfmaschinen angetrieben wurden. Die Entwicklungsgeschichte der Automatisierung führt zu einer immer höheren Selbständigkeit von Maschinen – beispielsweise die kybernetische Selbstregelung von Maschinen. Ein einfaches Beispiel dafür könnte die Anpassung der Temperatur aufgrund von Thermostaten sein.

Schlusspunkt dieser Entwicklung, so Rathgeber, ist das Ziel einer Kognisierung: „Der Anspruch der Kognisierung zielt auf eine immer größer werdende Autonomie – dabei sollen sich Systeme selbst soweit anpassen und optimieren können, dass sie sich selbst Zwecke setzen.“

Mit dem Begriff der Autonomie ist nun die begriffliche Spannung voll ausgeprägt. Können automatisierte Systeme autonom sein? Denn Autonomie ist etwas, das wir gemeinhin für ein wesentliches Merkmal menschlicher Akteure halten und betrifft dementsprechend den grundlegenden Personenstatus:

„Autonom sein, sich aus sich selbst heraus ein Gesetz geben zu können, ist Kern und Wesensbereich unseres menschlichen Selbstverständnisses. Die Aufgabe der Technikphilosophie muss untersuchen, ob dieser Anspruch von KI auf Kognisierung gerechtfertigt ist.“

In der Antrittsvorlesung wurde überdeutlich, dass mit der Entwicklung von KI nicht nur die Geschichte der Automatisierung konsequent zur Kognisierung fortgeschrieben wird, sondern auch die Frage nach dem Wesentlichen des menschlichen Selbstverständnisses ganz grundlegend gestellt werden muss.

Rathgeber schloss seine Ausführungen mit einem Argument gegen eine Reduktion des Autonomiebegriffs auf das, was Automatisierung leisten kann: „In der Rede über autonome technische Systeme liegt entsprechend ein immanentes Selbst-Missverständnis“, so Rathgeber.

Dass in der Debatte um KI ein gutes Stück intellektuelle Demut von Nöten ist, scheint eine natürliche Konsequenz von Rathgebers Überlegungen zu sein: „Wir haben es mit KI-Systemen zu tun, die in vielen Fällen und auf unterschiedlichen Ebenen weder von den Entwicklern noch von den Anwendern verstanden werden“, so Rathgeber. Und dies würde man wohl auch dem Google-Ingenieur Blake Lemoine zurufen wollen.

Wir wünschen Benjamin Rathgeber und seinem Team gutes Gelingen für Ihre Arbeiten in diesem wichtigen Zukunftsfeld!

(Ludwig Jaskolla, 26.07.2022)

 

Weitere Informationen:

www.hfph.de/rathgeber

www.center-responsible-ai.de