Fremdheit, Interkulturalität, Phänomenologie – DAAD-Gastprofessor Bernhard Leistle stellt sich und seine Forschungsschwerpunkte vor

Im Sommersemester 2022 wird Prof. Dr. Bernhard Leistle im Rahmen des Gastdozentenprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) an der HFPH lehren und forschen. Wir freuen uns, Prof. Leistle an der HFPH als Gastprofessor für Anthropologie, Philosophie der Psychologie und Phänomenologie willkommen zu heißen. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und seine Wünsche für seine Zeit in München gesprochen.

Prof. Dr. Bernhard Leistle, Copyright: HFPH Kleiß

Prof. Leistle, unsere Student*innen sind sicher gespannt auf den Austausch mit Ihnen. Könnten Sie sich und Ihren Lebensweg kurz vorstellen?

Ich bin in Penzberg bei München geboren und habe dort meine Kindheit und Jugend verbracht. Mein Aufenthalt an der Hochschule für Philosophie bedeutet daher in mancherlei Hinsicht eine Rückkehr in die Heimat. Nach dem Abitur am Gymnasium Bad Tölz und dem damals noch erforderlichen Zivildienst habe ich ein weiteres Jahr auf einer Weltreise verbracht, nicht zuletzt, um meinen Hunger nach dem Exotischen zu stillen. Meine Erfahrungen hinterließen allerdings ein Gefühl der Enttäuschung, denn ich musste mir eingestehen, dass sie letztlich auf der touristischen Ebene blieben. Das Interesse an fremden Lebenswelten war davon allerdings nicht beeinträchtigt und ich entschloss mich daher, Ethnologie an der Universität Hamburg zu studieren. Nach Beendigung des Grundstudiums wechselte ich an die Universität Bayreuth, wo ich 1999 den Magister in Ethnologie, mit Afrikanistik und Islamwissenschaft als Nebenfächern abschloss. In meine Zeit in Bayreuth fällt meine Begegnung mit der Phänomenologie, genauer gesagt, mit Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung und seiner Philosophie, die für mich so etwas wie ein intellektuelles Erweckungserlebnis darstellte. Ich schrieb meine Magisterarbeit zum Thema „Phänomenologische Beiträge zum Verstehen in der Ethnologie“ und die dabei aufgeworfenen Fragen beschäftigen mich bis heute. In den letzten 20 Jahren habe ich an einem Forschungsprogramm gearbeitet, das einen Dialog zwischen der Phänomenologie als Philosophie und der Ethnologie als empirischer Kulturwissenschaft anstrebt.

Nach einem zweijährigen Hiatus als Postbote bei der Deutschen Post AG (Bezirk Auerbach in der Oberpfalz), habe ich zusammen mit Frau und Tochter über ein Jahr auf Feldforschung in Fes, Marokko verbracht (gefördert vom DAAD). Die Forschung fand im Rahmen eines Teilprojekts des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Ritualdynamik“ an der Universität Heidelberg statt. Aus ihr ergab sich neben mehreren Artikelveröffentlichungen eine Doktorarbeit mit dem Titel „Sinneswelten – eine phänomenologisch-anthropologische Untersuchung marokkanischer Trancerituale“ für die mir 2007 der Doktortitel verliehen wurde (mit dem leider mittlerweile verstorbenen Klaus-Peter Köpping als Betreuer und Bernhard Waldenfels als Zweitgutachter). Im selben Jahr bewarb ich mich erfolgreich um eine Stelle mit Tenure Track an der Carleton University und lebe und arbeite seitdem mit meiner Familie in Ottawa, Kanada.

 

Sie forschen im Grenzbereich von Philosophie, Anthropologie und Psychologie. Können Sie uns einen Einblick in Ihren Forschungsansatz geben und das Zusammenspiel dieser drei Disziplinen an zwei oder drei Beispielen erläutern?

Das interdisziplinäre Zusammenspiel zwischen diesen Disziplinen vollzieht sich in meinem Projekt einer empirischen Phänomenologie, in der Konzepte und Ansätze aus der philosophischen Phänomenologie auf kulturanthropologische und psychologische Fragestellungen angewandt werden. Als Beispiel wäre hier ein Artikel mit dem Titel „Ritual as Sensory Communication“ zu nennen, enthalten in dem Sammelband Ritual and Identity (herausgegeben zusammen mit Klaus-Peter Köpping und Michael Rudolph). Dort habe ich gezeigt, dass sich das Verhalten der Teilnehmer*innen an marokkanischen Tranceritualen durch die kommunikative Struktur der jeweils angesprochenen Sinne verstehen lässt. Die Phänomenologie beschreibt die verschiedenen Sinne als spezifische Weisen der Kommunikation zwischen Selbst und Welt: Im Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken erscheinen Objekte in jeweils unterschiedlicher Form und zur gleichen Zeit erfährt sich das Subjekt in korrelierender Weise. So impliziert das Sehen ein Selbst, das sich einer relativ stabilen und geordneten, daher kontrollierbaren Welt gegenüber „sieht“, während das „hörende Selbst“ sich viel stärker von einer dynamischen Welt affiziert fühlt. In Trancepraktiken in Marokko findet man eine deutliche Korrelation zwischen dem Appell an die affizierenden, oder „pathischen“ Sinne und dem Manifestieren von Trancezuständen. Durch das Spielen von lauter Musik und dem Verbrennen von Duftaromen wird eine sinnliche Atmosphäre erzeugt, welche einen Erfahrungsmodus begünstigt, der ebenfalls die Auflösung fester Grenzen zwischen Innen und Außen beinhaltet, so auch in Trance. Die phänomenologische Perspektive hat dabei den Vorteil, dass sie die Frage nach dem „psychologischen Zustand“ des Individuums ihrer zentralen Stellung beraubt. Für das anthropologische Verständnis spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob ein/e bestimmte Teilnehmer*in „tatsächlich“ in Trance fällt, und welche Tiefe der Zustand erreicht. Entscheidend ist, dass die Sinne im Ritual gewissermaßen in Richtung Trance „deuten“. Die Trance stellt sich ein, wenn die Teilnehmer*innen ihre Erfahrung diesem Vektor folgen lassen, ein Vorgang, der durch Gewohnheitsbildung zwar erleichtert, keinesfalls aber determiniert wird.

Ein anderer Ansatz, den ich verfolge, besteht in dem Versuch, die philosophischen Dimensionen der Ethnologie klarer herauszuarbeiten und in deren Definition mitaufzunehmen. Hier orientiere ich mich an Bernhard Waldenfels‘ Charakterisierung der Ethnologie als „paradoxer Wissenschaft“: Wenn sie sich über den Gegenstand des kulturell Fremden definiert, löst sich die Ethnologie zwangsläufig selbst auf, sobald sie sich als Wissenschaft realisiert. Das ethnologisch interpretierte, verstandene Fremde ist eben nicht mehr das Fremde selbst. Um dieser Tendenz zur Selbstauflösung zu entgehen, muss sich die Ethnologie zugleich als Fremdaneignung und als Selbstentfremdung verstehen. In der Exploration dieser Doppelbewegung sehe ich auch das Potenzial der Ethnologie, einen vitalen Beitrag zur interkulturellen Philosophie zu leisten.

 

2017 haben Sie einen Sammelband zur Rolle des Anderen – also zur Bedeutung von interkultureller Verschiedenheit – herausgegeben. Was waren für Sie die Key-Findings dieses Projekts?

Der Anstoß zu diesem Projekt kam durch meine Beschäftigung mit Bernhard Waldenfels‘ responsiver Phänomenologie des Fremden. Wie so viele Interessierte, habe ich Prof. Waldenfels auf meiner Reise in die Phänomenologie kennengelernt und diese Bekanntschaft war für meine akademische Laufbahn von großer Bedeutung. Über ihn kam auch die Verbindung zu Prof. Schellhammer und der HFPH zustande, die nun zu meiner DAAD-Gastprofessur geführt hat. Um die Wichtigkeit von Waldenfels‘ Konzeption der Fremdheit für die Ethnologie aufzuzeigen und seine Philosophie in weiteren Kreisen der englischsprachigen Kulturanthropologie bekannt zu machen, organisierte ich 2013 eine Konferenz an der Carleton University. Neben Prof. Waldenfels folgten auch renommierte Kulturanthropologen wie Vincent Crapanzano und Robert Desjarlais der Einladung und lieferten Beiträge zu dem resultierenden Sammelband.

Eine Zusammenfassung der im Band enthaltenen Einsichten ist aufgrund der Heterogenität der verschiedenen Ansätze schwierig. Die Autoren nahmen auf sehr unterschiedliche Weise und in verschiedenem Maße Bezug auf Waldenfels‘ Philosophie. Was sich allerdings zeigte, war, dass die Idee eines kulturell Fremden, das sich nicht im Verstehen vereinnahmen lässt, große Zugkraft und Organisationspotenzial besitzt. Dies betraf sowohl die Reflektion des Verhältnisses zwischen Forschenden und Beforschten, als auch die ethnographische Interpretation fremdkultureller Erfahrung. Einige Beiträge kreisten darum, dass Ethnolog*innen niemals eine letztgültige Wahrheit über die fremde Kultur aussprechen können. Andere zeigten, dass sich auch in anderen Gesellschaften und Kulturen die Frage nach dem Fremden stellt und zu kulturspezifischen Formen des Antwortens führt.

Insgesamt hat der Sammelband meiner Ansicht nach dazu beigetragen, die phänomenologische Konzeption des Fremden an zentraler Stelle in der Ethnologie zu etablieren.

 

Wenn Sie auf Ihre Zeit in München vorausblicken, auf was freuen Sie sich am meisten?

Auf den Austausch mit den Student*innen und Kolleg*innen an der Hochschule für Philosophie. Dabei wird es für mich interessant sein zu sehen, wie sich das Universitätsstudium in Deutschland seit meiner Zeit verändert hat, und wie es sich von dem in Kanada unterscheidet. Das eine habe ich nur als Student, das andere nur als Professor erlebt; mein Aufenthalt in München ermöglicht es mir, diese beiden Perspektiven zu verbinden. Meine Gastgeber haben auch eine Reihe von Veranstaltungen organisiert, innerhalb wie außerhalb der Hochschule und ich freue mich auf die Begegnungen und Gespräche, die dadurch ermöglicht werden.

Natürlich freue ich mich auch darauf, nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder längere Zeit in Deutschland leben zu können, noch dazu in meiner Herkunftsregion. Und ich gebe zu: Dabei geht es auch um solche Dinge wie Weißwürste und Brezen. Allerdings versuche ich mich darauf einzustellen, dass im Laufe der Jahre ein gewisses Fremdwerden unvermeidlich ist. Durch mein Interesse an den Themen Fremdheit und Interkulturalität wird jedoch selbst diese Ambivalenz zu einem Aspekt, dem ich freudig entgegensehe.

 

Studierende der HFPH werden auch Kurse bei Ihnen besuchen können. Auf welche Kurse und Themen dürfen sich unsere Student*innen freuen?

Ich biete insgesamt drei Seminar-Kurse an: Im Proseminar „Merleau-Pontys Philosophie der Kultur“ werden wir uns dem Denken dieses bedeutenden Phänomenologen unter besonderer Berücksichtigung seines Strukturdenkens und seiner Schriften zu Ausdruck und Kunst annähern. Das Werk des Psychoanalytikers und Ethnologen Georges Devereux steht im Mittelpunkt eines Hauptseminars zum Thema „Interkulturelle Psychologie“. Dabei werfen wir einen genauen Blick auf Devereux‘ Buch Reality and Dream, in dem die von ihm durchgeführte Therapie mit einem Native American Patienten minutiös beschrieben wird. Das Hauptseminar „Phänomenologie des Performativen“ beschäftigt sich schließlich mit meinem derzeitigen Forschungsprojekt, eine empirisch fruchtbare, phänomenologische Theorie der Performativität zu entwickeln. Der Anwendungsaspekt wird dabei durch die performative Analyse eines historischen Ereignisses, des Chicago Conspiracy Trial, erprobt.

 

Die Kurse von Prof. Leistle an der HFPH finden Sie im Vorlesungsverzeichnis.

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