„Die Verteidigung des Liberalismus ... ist somit immer auch eine Verteidigung der Demokratie.“

Prof. Dr. Patrick Zoll SJ über die Rolle des Liberalismus für die Demokratie, seine neue Anthologie "Beyond Classical Liberalism" und seine Studienzeit an der HFPH.

Copyright: SJ Bild / Ender

In den vergangenen Monaten haben wir in Deutschland großes Misstrauen gegen die Institutionen unserer Demokratie erlebt. Dieses Misstrauen geht auch oft mit einer sehr grundsätzlichen Kritik am Liberalismus einher. Warum ist der Liberalismus aus Konstante westlicher Demokratien wichtiger denn je?

Demokratisch organisierte Gesellschaften können nur enstehen und überleben, wenn grundlegende Freiheitsrechte von Individuen respektiert und garantiert werden. Ferner gehen Demokratien davon aus, dass ihre Bürger und Bürgerinnen vor dem Gesetz gleich sind, aber sich ansonsten in vielfacher Hinsicht unterscheiden (z.B. in Bezug auf ihre Vorstellungen von einem guten Leben). Die Entstehung von Demokratien nach der Französischen Revolution geht eng einher mit der Entwicklung des Liberalismus. Der Liberalismus ist eine Theorie bzw. Theoriefamilie, die danach fragt, wie politische Macht so gebraucht werden kann und begrenzt werden muss, dass Bürger und Bürgerinnen in ihrer Freiheit, Gleichheit und Pluralität respektiert werden.

Anti-liberale Kritiker und Kritikerinnen des Liberalismus, sogenannte „Postliberale“, lehnen diese grundsätzliche normative Einhegung politischen Machtgebrauchs ab. Ihrer Ansicht nach sollen politische Ordnungen sich am Guten ausrichten und das Gute befördern, selbst dann, wenn dies mit empfindlichen Freiheitseinschränkungen einhergeht und entsprechende Freiheitseingriffe oder Ungleichbehandlungen nicht allen betroffenen Bürgern und Bürgerinnen gegenüber öffentlich gerechtfertigt werden können. Damit wird aber auch das normative Fundament ausgehöhlt, auf dem demokratische Gesellschaften aufruhen. Von vielen postliberalen Denkern und Denkerinnen wird dies aber nicht als ein Nachteil ihrer Theorien betrachtet, sondern es wird offen eingestanden, dass man demokratische Institutionen nur als optional für die eigene präferierte politische Ordnung betrachtet. Die Verteidigung des Liberalismus gegen derartige Ansichten ist somit immer auch eine Verteidigung der Demokratie.

Dies bedeutet nicht, dass ein Liberalismus oder demokratische Institutionen perfekt sind oder nicht kritisiert werden dürfen. Es ist aber genau zu unterscheiden, ob die Kritik auf eine Verbesserung oder eine Abschaffung des Liberalismus und demokratischer Institutionen abzielt. Ferner ist zu unterscheiden zwischen verschiedenen Varianten eines Liberalismus. Ich selbst kritisiere in zahlreichen Publikationen z.B. eine derzeit dominante Form des Liberalismus, die man „Neutralitätsliberalismus“ nennen könnte. Im Buch bezeichnen wir diese Spielart des Liberalismus aufgrund ihrer Dominanz in den letzten Jahrzehnten als „klassischen Liberalismus“. Ein solch klassischer Liberalismus ist recht radikal, insofern er dafürhält, dass kontroverse Fragen des guten Lebens gar keine Rolle mehr spielen dürfen in Diskursen, in denen es um die öffentliche Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt geht. Konsequenterweise plädieren Vertreter und Vertreterinnen dieser Position dafür, dass der legitime Umfangsbereich staatlichen Handelns viel enger gefasst werden müsste, als er es in vielen Demokratien de facto der Fall ist. Zum Beispiel kann ein solcher Liberalismus schwer begründen, warum der Staat Kultureinrichtungen wie Museen fördert oder freiwillige Prostitution sanktioniert.

Ich rechne mich einem Lager von Liberalen zu, welches aufzuzeigen versucht, dass man Kritik am Liberalismus äußern und konkrete Verbesserungsvorschläge für die liberale Theoriebildung unterbreiten kann, ohne den Boden des Liberalismus verlassen zu müssen.

 

Sie haben gerade eine Anthologie unter dem Titel „Beyond Classical Liberalism: Freedom and the Good“ herausgegeben. Warum ist dieses Denken „beyond“ – über die Grenzen des klassischen Liberalismus – notwendig?

Es gibt berechtigte Kritik am Liberalismus. Zum Beispiel hat sich der Liberalismus seit ungefähr den 1970er Jahren radikalisiert und ist zu dem geworden, was wir als „klassischen Liberalismus“ bezeichnen. Charakteristisch für diese Position ist, dass sie meint, dass sich aus einem Bekenntnis zu liberalen Grundwerten wie Freiheit, Gleichheit und Pluralität eine Neutralitätspflicht ableiten lässt. Bürger und Bürgerinnen seien im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung ihrer politischen Präferenzen dazu verpflichtet, auf einen Bezug zu ihren Vorstellungen von einem guten Leben zu verzichten. Zum Beispiel sei es unzulässig, die Befürwortung einer Schulpflicht damit zu begründen, dass dies zu einer autonomen Lebensweise befähigt. Ebenso verletzte es die Neutralitätspflicht, wenn man die Ablehnung eines Rechts auf Abtreibung mit Verweis auf ein religiöses Menschenbild rechtfertige. In jüngerer Zeit argumentieren einige Vertreter eines klassischen Liberalismus sogar dafür, dass Bürger und Bürgerinnen, die eine solche Neutralitätspflicht nicht anerkennen und gute Gründe dafür vorbringen, nicht als vernünftige Diskursteilnehmende zu behandeln sind. Ein solch dogmatischer Liberalismus ist aber kaum geeignet, der (religiösen) Pluralität seiner Bürger und Bürgerinnen gerecht zu werden und er macht sich angreifbar für den Vorwurf, dass er auf einer säkularen Vorstellung von einem guten Leben aufruht, die sich gegen Kritik zu immunisieren versucht.

Die Dominanz eines klassischen Liberalismus hat den falschen Eindruck erweckt, dass wenn man diese oder andere Punkte kritisieren will, man den Liberalismus als solchen kritisieren muss. Zum Beispiel ist bei vielen religiösen Bürgern und Bürgerinnen über die Jahrzehnte der falsche Eindruck entstanden, dass sie wählen müssen: Treue zu einer Lebens- und Weltgestaltung im Einklang mit ihrer religiösen Tradition oder Bekenntnis zum Liberalismus.

Mit dem „beyond“ im Titel wollen wir als Herausgeber deutlich machen, dass man den Liberalismus über den klassischen Liberalismus hinaus weiterdenken und -entwickeln muss, um die für die Demokratie skizzierte fatale Dialektik des „entweder-oder“ zu durchbrechen. Mit einem einfachen „weiter so“ stärkt man jene anti-liberalen Kräfte, die den Liberalismus in Bausch und Bogen kritisieren und hinter sich lassen wollen.

Timothy Garton Ash hat 2021 in einem Beitrag für die NZZ diagnostiziert, dass der Liberalismus nur dann überleben werde, wenn er sich auf drei Säulen stütze: Zunächst seien die klassischen Werte, wie Redefreiheit, zu wahren, dann müsse eine Kritik der Verwerfungen des rein ökonomischen Liberalismus erfolgen, schlussendlich sei eine liberale Haltung zu den großen Transformationen unserer Zeit zu finden. Trägt dieses Konzept oder braucht es noch mehr?

Ich kenne den Artikel nicht und mir ist auch nicht ganz klar, was er mit dem letzten Punkt meint. Aber zumindest bei den ersten beiden Thesen scheint er mir richtig zu liegen. Erstens ist es für das Überleben eines Liberalismus erforderlich, dass Werte wie (Rede-)Freiheit geschützt werden. Zweitens haben neo-liberale Ideologien in der Politik über die vergangenen Jahrzehnte zu einem Abbau des Sozialstaats und wachsender Ungleichheit in vielen Demokratien geführt. Aber schon Platon und Aristoteles haben gute Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ein zu hohes Maß an ökonomischer Ungleichheit auf Dauer schädlich ist für ein demokratisches Gemeinwesen. Liberale Demokratien brauchen neben der Säule der Freiheit also auch die Säule der (ökonomische) Gleichheit, wenn sie eine Zukunft haben wollen. Ökonomische Ungleichheiten sind zulässig, nur darf die Schere zwischen Arm und Reich nicht derartig drastisch auseinanderklaffen, wie sie es derzeit in vielen demokratischen Gesellschaften tut.

Allerdings scheint mir dies noch zu wenig. Die Beiträge in der Anthologie werben dafür, dass es für eine effektive Verteidigung des Liberalismus und demokratischer Institutionen auch noch mindestens eine dritte Säule braucht, nämlich die Säule des Guten. Anstatt für sich Neutralität in Bezug auf Fragen des guten Lebens zu reklamieren, sollte Liberale offensiv für eine liberale Konzeption des guten Lebens werben und die Vorzüge dieser Konzeption gegen Alternativen verteidigen. In meinem Artikel des Sammelbands argumentiere ich z.B. dafür, dass Demokratien nur überleben können, wenn sie über eine hinreichende Anzahl von Bürgern und Bürgerinnen verfügen, die bestimmte rationale Fähigkeiten ausgebildet haben und deren Vernunftgebrauch nicht übermäßig von ihren Emotionen beeinträchtigt wird. Man könnte anfügen, dass Demokratien Demokraten mit bestimmten Tugenden brauchen, z.B. Tugenden wie Mäßigung, Gerechtigkeit, Mut und Klugheit.

Timothy Garton Ashs Liberalismus ist mir also noch etwas zu „dünn“. Ich plädiere für eine robustere Variante des Liberalismus. Wenn Kritiker und Kritikerinnen des Liberalismus diesen dafür kritisieren, dass er einen Diskurs über Fragen des guten Lebens verweigert, dann sollte man diese Kritiker und Kritikerinnen meiner Ansicht nach damit stellen, dass man genau diesen Diskurs eröffnet. Man legt offen, auf welcher Vorstellung von einem guten Leben der Liberalismus aufruht, verteidigt diese Vorstellung gegen Kritik und lädt Kritiker und Kritikerinnen ein, ihrerseits Argumente dafür vorzubringen, dass ihre alternativen Vorstellungen besser sind. Meiner Überzeugung nach wird sich zeigen, dass ein gutes Leben am besten in einer liberalen demokratischen Ordnung verwirklicht werden kann. Der Spieß wird also umgedreht. Es wird gezeigt, dass ein Bezug auf das Gute in der Politik nicht gegen Liberalismus und Demokratie ausgespielt werden kann, sondern liberale Demokratien den bis jetzt besten politischen Rahmen für das Führen eines guten menschlichen Lebens bereitstellen. Postliberale Alternativen sind also nicht nur abzulehnen, weil sie anti-liberal sind. Sie sind abzulehnen, weil sie erschweren, ein guten Lebens zu wählen und zu führen.

 

In Ihrem Buch werden auch an mehreren Stellen konfuzianische Perspektiven integriert. Wie ergänzt und erweitert dieses Denken den Liberalismus westlicher Prägung?

Die Beiträge von Franz Mang und May Sim zeigen aus meiner Sicht, dass es sehr interessante Konvergenzen zwischen einem Liberalismus westlicher Prägung und einer Politischen Philosophie gibt, die sich auf konfuzianisches Denken stützt. Ähnlich wie in der westlichen Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen wird in konfuzianisch geprägten Kulturräumen die Frage kontrovers diskutiert, in welchem Verhältnis Individuum und politische Gemeinschaft bzw. Ethik und Politik stehen. Insbesondere Sim argumentiert in ihrem Artikel dafür, dass eine konfuzianische Tugendethik einer aristotelischen sehr ähnelt und über Ressourcen verfügt, die Befürwortung einer staatlichen bzw. demokratische Ordnung mit individuellen Grund- und Freiheitsrechten damit zu begründen, dass in ihr Menschen am besten die Tugenden erwerben können, die sie für das Führen eines guten Lebens brauchen.

Manchmal begegnet einem der Vorwurf, dass die Idee von Menschenrechten eine „Erfindung“ westlicher Kultur und Philosophie sei und die Geltung menschenrechtlicher Forderungen deshalb keine Universalität beanspruchen könne.  Es stelle eine Art von „Kolonialisierungsversuch“ dar, wolle man etwa chinesische Politik mit Verweis auf Menschenrechtsverletzungen kritisieren. Die Auseinandersetzung mit dem Konfuzianismus ist auch deshalb so wichtig, weil sie zeigt, dass man ausgehend von einer philosophischen Tradition, die im asiatischen Kulturraum einen großen Einfluss hatte und weiterhin hat, begründen kann, warum man eine politische Ordnung begrüßen sollte, in der politischer Machtausübung durch individuelle Grundrechte Grenzen gesetzt werden. Die westliche Forderung nach der Einhaltung der Menschenrechte kann Anlass sein, dass Menschen in östlichen Kulturräumen entdecken, dass diese Idee gar nichts Fremdes oder Importiertes ist, sondern auch in ihren eigenen Traditionen (z.B. des Konfuzianismus) angelegt ist. Westliche Philosophen und Philosophinnen sollte diese Tatsache wiederum etwas demütiger machen. Nicht erst die westliche Aufklärung im Europa des 18. Jahrhunderts hat Menschen erkennen lassen, dass ein gutes Leben nur in einer politischen Gemeinschaft verwirklicht werden kann, in denen unveräußerliche Grundrechte Einzelner nicht verletzt werden. Des Weiteren kann uns das Kennenlernen konfuzianischen Denkens helfen, so manche verschütteten Ressourcen der philosophischen Traditionen wiederzuentdecken, die unsere westlichen Kulturen geprägt haben, z.B. das aristotelisch-mittelalterliche Verständnis von Philosophie als Weisheitslehre.

 

2025 wird unsere Hochschule 100 Jahre alt. Was ist Ihre liebste Erinnerung, die Sie mit der HFPH verbinden? Was wünschen Sie Ihrer Hochschule für die kommenden Jahre?

Es fällt mir schwer, eine isolierte Erinnerung herauszugreifen. Wenn ich mich an meine Studienjahre an der HFPH erinnere, dann ist es eher eine Art von Stimmung oder Grundgefühl, das ich mit der Hochschule verbinde. Ich assoziiere mit der Hochschule ein Gefühl von Freiheit und Wertschätzung. Das schließt kontroverse Debatten nicht aus, damals wie heute. Aber ich hatte fast immer den Eindruck, dass man beim gemeinsamen Philosophieren an der Wahrheit interessiert ist. Diese Offenheit und Bereitschaft zum Zuhören sind nicht selbstverständlich. Ebenso wenig wie die Bereitschaft, eigene Ansichten zu korrigieren oder revidieren, wenn sich im Dialog herausstellen sollte, dass gute Gründe dafür sprechen. So eine Art von „existentieller Ernsthaftigkeit“ in einer Gemeinschaft mit anderen Philosophen und Philosophinnen erfahren und leben zu können, ist ein Privileg, wofür ich der Hochschule und seinen damaligen Dozierenden und Mitarbeitenden bis heute dankbar bin.

Ich bin der Hochschule auch für die philosophische Ausbildung sehr dankbar, die mir mit dem Bakkalaureats- und Magisterstudium mitgegeben wurde. Ich habe erst später im Theologiestudium und dann in vielen anderen beruflichen wie privaten Kontexten verstanden und realisiert, wie wichtig es ist, gelernt zu haben, in strukturierter Weise Probleme und Lösungsansätze analysieren und auf ihre Prämissen hin befragen zu können. Die Hochschule hat mir nicht nur eine ganze Menge an Wissen vermittelt, sondern mich auch als Person geprägt.

Die HFPH erfüllt eine wichtige und vielleicht auch einzigartige Brückenfunktion. Sie bildet eine Brücke zwischen einer scholastischen Tradition des Philosophierens—die von der Überzeugung getragen ist, dass Glaube und Vernunft sich nicht widersprechen, sondern vielmehr gegenseitig bereichern—und dem Besten, was die derzeitige Philosophie zu bieten hat. Auf diese Weise werden philosophische Ressourcen einer Tradition, die den europäischen Kulturraum geprägt hat, ins Gespräch gebracht mit zeitgenössischem philosophischem Denken, um Orientierung in wichtigen ethischen, politischen und weltanschaulichen Fragen zu vermitteln.

Ich wünsche der Hochschule, dass sie auch in den kommenden Jahren die finanziellen und personellen Ressourcen sichern kann, die es braucht, um diese katholische Tradition des Philosophierens und jesuitischer Menschenbildung weiterführen zu können.

 

Medien:

Die neue Anthologie "Beyond Classical Liberalism" von Patrick Zoll SJ und James Dominic Rooney (2024).

Mitschnitt der Antrittsvorlesung "Können Menschen ihren eigenen Tod überleben?" von Patrick Zoll SJ (2023).

Mitschnitt des Vortrags "Wie Faschismus funktioniert" von Patrick Zoll SJ (2019)

 

Über Prof. Dr. Patrick Zoll SJ:

Patrick Zoll SJ (geb. 1977) ist seit dem Wintersemester 2022/23 Professor für Metaphysik an der HFPH. Von 2017 bis 2022 war er an der HFPH Dozent für Metaphysik und Politische Philosophie. Seit 1998 ist er Mitglied des Jesuitenordens. 2015 erfolgte die Promotion in Philosophie an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms Universität Bonn. Seine Dissertation wurde 2016 mit dem Karl Alber Preis des Philosophischen Jahrbuchs ausgezeichnet. Patrick Zoll SJ forscht in der Politischen Philosophie zu Liberalismus, Perfektionismus, Pragmatismus und Theorien öffentlicher Rechtfertigung und in der Metaphysik zu Hylomorphismus, Theorien der Existenz und zu Thomas von Aquin. Lehr- und Forschungsaufenthalte führten ihn 2016 und 2019-2020 an die Saint Louis University in den USA.