Philosophie, Religion, Spiritualität
Bei unserem Thema, der Frage nach Gott, kommen sich Philosophie und Theologie sehr nahe. Die Philosophie kann den Sinn der Wirklichkeit in vielen Einzelbereichen ergründen, doch der menschliche Geist kann den Gesamtsinn der Wirklichkeit nie erfassen. Denn unser Geist ist selbst ein Teil dieser Wirklichkeit und hat daher immer nur einen begrenzt-perspektivischen Blick.
Religionen dagegen beanspruchen, von einer letzten, nicht fassbaren, transzendenten Wirklichkeit her das Gesamt des Lebens zu deuten. Was charakterisiert Religionen? Sie sind umfassende „Zeichensysteme“ und von drei Faktoren bestimmt: von einer Grundgeschichte, welche die wahrnehmbare Wirklichkeit erzählend deutet; von Riten, die diese letzte Wirklichkeit präsent machen und – drittens – von einem Ethos der Lebensgestaltung. Mythos – in einem weiten Sinn –, Ritus und Ethos sind die charakteristischen Merkmale jeder Religion.
Die antike Philosophie – wörtliche die „Liebe zur Weisheit“ – hatte noch das „gute, erfüllte Leben“ als Hauptgegenstand ihres Nachdenkens. Damit lag sie der Religion im heutigen Sinn noch viel näher, aber besonders der heutigen kulturellen Spielart des Religiösen in unserer westlichen Welt: der Suche nach einer persönlichen Spiritualität. Verfasste Religion und spirituelle Suche klaffen heute vor allem bei der jüngeren Generation auseinander. Dieses Zeithintergrunds sollten wir uns bei unserer Themafrage nach Gott bewusst sein.
Entstehung der Religion, der Offenbarungsreligion Israels
Religion gibt es so lange, wie es Menschen gibt. Schon die ältesten Höhlenmalereien weisen auf rituelle Verehrung und Kult hin. Die früheste Phase der Religion ist der sogenannte „Kosmotheismus“. Der Mensch war von den übermächtigen Kräften der Natur so abhängig, dass er sich zu den Naturgewalten in Beziehung setzte, zB zum Gewitter mit dem Donnergott oder zum Kreislauf der Natur mit einem Fruchtbarkeitsgott bzw. einer Fruchtbarkeitsgöttin.
Transzendenzerfahrungen sind bis heute der Urquell, aus dem Religiosität erwächst. Im Unterschied zum magischen, von äußeren Kräften bestimmten Kosmotheismus geht es heute um die innere, freie Beziehung zu einer größeren, umfassenden, letzten Wirklichkeit: Es können Erfahrungen der Fülle oder des Mangels, der Not und des Leids, es können personale Erfahrungen der unbedingten Verantwortung oder der grundlosen Dankbarkeit sein, oder auch ein schlichtes Staunen in der Natur oder über ein neugeborenes Kind. Der Tod und die Endlichkeit bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Ewigkeit können ebenfalls die Frage nach Gott aufbrechen lassen.
Aus dem anfänglichen Kosmotheismus mit verschiedenen Naturgottheiten, von denen man abhängig war, entwickelte sich allmählich ein ganzer Götterhimmel. Alle menschlichen Bedürfnisse, Lebenslagen, Fragen und Interessen hatten eine himmlische Adresse – die Phase des „Polytheismus“.
Auch der Gott Israels reiht sich in diese Entwicklungsgeschichte ein. Er kam nach heutiger Erkenntnis aus der Wüste, war kein Wetter- und Fruchtbarkeitsgott, sondern ein Sturmgott. Aus einem abgeschiedenen Bereich zieht er ins Kulturland ein, durch König David in die Stadt Jerusalem und wird in Verschmelzung mit der vorhandenen Religion zum Staatsgott des Südreiches Juda. Im Nordreich Israel etabliert er sich als Staatsgott vor allem aufgrund der Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens. Er ist in beiden Varianten ein Gott des Kampfes und der Rettung.
So entwickelte sich über Jahrhunderte in Gesamtisrael das Modell des „Henotheismus“: d.h., der Glaube an den einen Gott Israels vertrug sich durchaus mit anderen Göttern. Im 6. Jahrhundert kam es dann im Babylonischen Exil zum monotheistischen Durchbruch: Der Gott Israels wurde als einziger Gott von Himmel und Erde erkannt.
Die heiligen Schriften Israels wurden von der monotheistischen Warte aus überarbeitet bzw. neu verfasst. Diese Schriften sind, da Gott kein Gegenstand der Welt ist, Selbstoffenbarung, Selbstmitteilung Gottes aus menschlicher Perspektive: Gotteswort in Menschenwort. Es handelt sich um geistig-personale Erfahrungen und Erkenntnisse, die der historischen Forschung letztlich nicht zugänglich sind. Die Schriften des AT sind poetische Texte im weitesten Sinn, die letztlich nur aus dem mystischen Kontakt der Hagiographen mit Gott zu deuten sind.
Monotheismus, Schriftreligion in Israel
Der Medienphilosoph Eckhard Nordhofen, geb. 1945, hat in seinem Buch „Corpora – Die anarchische Kraft des Monotheismus“ (Freiburg 2018) die Entstehung des Monotheismus auf faszinierende Weise als Geschichte eines Medienwechsels rekonstruiert. Im Zentrum steht die These, dass die Schrift der entscheidende Katalysator für die Entstehung des biblischen Monotheismus war. Dieser lag intellektuell in der Luft, früh schon im 14. Jahrhundert v.Chr. bei Echnaton in Ägypten, später in Persien, vor allem aber im Griechenland des 6. Jahrhunderts v. Chr. bei den Vorsokratikern. „Um sich wirksam als Religion durchzusetzen, bedurfte es aber eines geeigneten Mediums. Das war die Schrift. Sie kann zaubern. Sie macht, dass in unserem Bewusstsein etwas Abwesendes auf eigentümliche Weise anwesend sein kann. Mit dieser Simultaneität von Abwesenheit und Da–Sein wird der monotheistische Punkt getroffen“ (Corpora, S.27). Dass das Medium der Schrift bei der Entstehung des Monotheismus eine Schlüsselrolle gespielt hat, ist das radikal Neue bei Nordhofen.
Die antiken Religionen waren Bildreligionen. Sie vergewisserten sich der Gegenwart des Göttlichen in der Welt im Medium des Bildes. Israel aber verwirft die Verehrung von Gottesbildern. Der Kosmos der Welt erhält in der Religion Israels ein nicht fassbares, geheimnisvolles Gegenüber, das kein geschnitztes Götterbild darstellen kann. Die Gefahr der Verwechslung von Bezeichnendem und Bezeichneten ist bei der Schrift geringer als beim Bild. So entstand die Buchreligion als das dem biblischen Monotheismus kongeniale Medium.
Von der Schrift zum Körper
Nachdem Israel den epochalen Schritt vom Kultbild zur Schrift als Medium der Gottespräsenz gemacht hatte, wird im Neuen Testament der menschliche Körper, die Person Jesu Christi, zum neuen, zum erneuerten Gottesmedium, ohne das alte Medium hinter sich zu lassen oder gar abzulehnen. Es wird ins neue integriert. Diese Stationen des Medienwechsels vom Bild über die Schrift hin zum Körper werden in Nordhofens erstem Buch „Corpora“ dargelegt. In „Media divina – Die Medienrevolution des Monotheismus und die Wiederkehr der Bilder“ (Freiburg 2022) schreibt er diese Geschichte im Christentum fort und zeigt, wie die Kirche – unterschiedlich im Osten und im Westen – um das Bild als Medium gerungen hat.
Das Bild als Gottesmedium
Im Anfang stehen die Bilder. Sie sind die Leitmedien des Polytheismus. Menschliche Bedürfnisse werden auf Götter projiziert, damit diese befriedigen, was der Mensch selbst nicht befriedigen kann. Der Polytheismus ist demnach ein Funktionalismus. Religion hat die Funktion, Bitten, die der Mensch selbst nicht erfüllen kann, an die Götter zu adressieren – in der Erwartung, dass diese die Bitten erfüllen werden. Das Opferwesen der antiken Religionen ist nach Nordhofen Ausdruck dieses Tauschprinzips. Man gibt, um zu empfangen: Do, ut des.
Diesen Funktionalismus kritisiert Nordhofen. In diesem Zusammenhang betont er die Ambivalenz der Götterbilder: Ihre Sichtbarkeit ist ein gewisser Vorteil für die Kommunikation mit den Göttern, aber die Bilder und Statuen könnten für die Götter selbst gehalten werden. Das ist ihr Nachteil. Diesen Mechanismus der Verwechslung – das Medium wird für den Gott gehalten – nimmt die Götzenpolemik der alttestamentlichen Propheten aufs Korn. Sie spotten, dass man Götter aus Holz und Stein, die „von Menschenhand gemacht“ sind, doch nicht anbeten könne (vgl. Jes 44).
Exklusiver Monotheismus: Gott - transzendent und gegenwärtig
Der Gott Israels ist anders. Seine radikale Transzendenz verbietet es, sich ein Bild von ihm zu machen oder sich seiner zu bemächtigen. Die Religion Israels erwächst aus der Religionskritik. Das ist unser Erbe im Christentum, das von seinem Ursprungsschriften her zunächst nichts anderes sein will als ein universalisiertes Judentum, sich jedoch mit dem Hineinwachsen in die römisch-hellenistische Welt ab dem 2 Jahrhundert zur eigenständigen Religion entwickelt hat. In der Abweisung einer „usurpatorischen Theologie“, die sich am unbegreiflichen Geheimnis Gottes vergreift, sieht Nordhofen die anarchische Kraft des biblischen Monotheismus.
Sein heiliger Name, nicht aussprechbarer Name, wird durch das Tetragramm in der Schrift markiert. „Tetragramm“, wörtlich „Vierfachzeichen“ meint ein hebräisches Wort mit vier Konsonanten, das nicht übersetzbar ist. ( Jod, He, Waw, He von rechts nach links gelesen das Tetragramm=Vierfachzeichen. יהוה „JHWH“). Der „Ewige“ oder der „Herr“, so meist umschrieben, ist für Israel kein Teil des Kosmos, sondern steht der Welt als Schöpfer des Himmels und der Erde gegenüber. Auch in seiner Zuwendung bleibt er, der ganz Andere, unfassbar, ewig und einzig. Er ist mehr und anderes als die Erfüllung menschlicher Wünsche.
Markierungen seiner Andersartigkeit zeigen die Spur seiner Gegenwart an, ohne dass diese begrifflich fixiert werden könnte: z,B. der brennende Dornbusch der nicht verbrennt (Ex 3,14), oder die Spur des „Vorübergangs“ des Herrn, des Pascha, die sich nicht fassen lässt: Um jede Verwechslung des heiligen Geheimnisses mit der Welt der Geschöpfe auszuschließen, kommt es im exklusiven Monotheismus, der geschichtlich erst im Babylonischen Exil ganz durchbricht, zum entscheidenden Medienwechsel vom Kultbild zur Schrift.
Nach Nordhofen sind es vor allem 3 Faktoren, die den Durchbruch zum Monotheismus im Exil begünstigt haben: erstens der kritische und aufklärerische Blick auf den Bilderkult der Babylonier; zweitens der Wille der Deportierten, den JHWH–Glauben als soziale Bindekraft und Identitätsbestärkung auch im Exil fern von Jerusalem beizubehalten und drittens die Entwurzelung, die die Befreiung vom Ballast altkanaanäischer Kulttraditionen, die man in der Königszeit immer noch geduldet hatte und die nur allmählich der Bewegung des Henotheismus, der ausschließlichen Verehrung JHWHs, weichen mussten.
Die Schrift als Medium der Differenz
Die Schrift ist ein Medium der Differenz und Vorenthaltung. Niemals behauptet dieses Medium, genau das zu sein, was es bedeutet. Eben diese Differenz ist der Vorzug der Schrift gegenüber dem Bild. Der Autor ist in der Schrift nicht gegenwärtig, allerdings ist er durch die Buchstaben, die er hinterlässt, als Abwesender zugleich auch anwesend.
Wie aber kommt es zur Sakralisierung der Schrift ausgerechnet in Israel? Denn den Aufstand gegen die vielen Götter gibt es auch in Griechenland. Doch nur in Israel bildet sich eine Sakralsprache aus. Wie kommt das?
Nordhofen – und das ist seine innovative Erklärung – verweist auf einen Unterschied im Alphabet, der auf der Hand liegt, den man aber leicht übersieht. Das griechische Alphabet fängt das mündlich gesprochene Wort exakt ein, es kennt auch für die Vokale entsprechende Buchstaben. Oralität und Schriftlichkeit konvergieren. Das gesprochene Wort wird in der Schrift exakt abgebildet. Die hebräische Schrift ist anders. Sie besteht nur aus Konsonanten, die Vokalisierung bleibt offen und unbestimmt. Das schafft gegenüber der mündlichen Alltagssprache eine gewisse Fremdheit und Distanz. Während die griechische Schrift schnell einem Prozess der Profanierung unterliegt, behält die hebräische Schrift einen „alteritären Nimbus“. Dieser verstärkt sich, je mehr im Alltag aramäisch und später griechisch gesprochen wird. Die Schriften Israels werden zur Heiligen Schrift.
Gefahr der Grapholatrie
Die Sakralisierung der Schrift hatte allerdings erneut ambivalente Folgen. Die Schriftgelehrten standen in Gefahr, sich auf den Buchstaben des Gesetzes zu fixieren. Es entwickelten sich Formen der „Schriftverehrung“, die Nordhofen in Anlehnung an den Begriff Idolatrie „Grapholatrie“ nennt. Im Namen einer buchstäblichen Auslegung des Gesetzes kam es zu einer möglichen Bemächtigung des Gotteswillens, die Nordhofen unter den Begriff der „usurpativen Theologie“ fasst. Um diese Bemächtigung als unangemessen auszuweisen, hebt er auf eine Eigenart der göttlichen Offenbarung ab, die oft übersehen wird: Indem Gott nahekommt, entzieht er sich auch! Offenbarung ist immer ein Zugleich von Präsenz und Vorenthaltung.
Dieses Motiv des Entzugs oder der Vorenthaltung achtet eine „privative Theologie“, die sensibel bleibt für die Spuren der Alterität Gottes. „Privativ“ leitet sich her von Lateinischen „privare“ – „berauben“. In Präfixen (de-, miss-, un-) oder Suffixen (-los, -leer ..) und den entsprechenden Adjektiven oder Nomen ein semantischer Hinweis auf das Fehlen, Weglassen, die Nicht-Nichtfassbarkeit des zugrundeliegenden Wortstammes. Die Spannung der passageren Präsenz Gottes bei bleibender Transzendenz und Unfassbarkeit kommt so besser zum Ausdruck. Begriffslogisch wird ein Etwas unterstellt, von dessen Existenz man ausgeht, das aber nie in Besitz genommen werden kann.
In diesem Sinne zieht sich durch das ganze Neue Testament ein Medienkonflikt. Die Schriftgelehrten verweisen auf die Gebote und damit auf die grapholatrische Tradition. Jesus legt Wert auf das Innere, zum Beispiel bei den Reinheitsgeboten Bei ihm kommt es auf das Herz an. Das Herz, die Mitte der Person, soll den Willen Gottes erkennen und aufnehmen. Jesus nimmt also die jüdische Tradition auf und konzentriert sie im Wesentlichen: Im Vertrauen auf jenen Gott, der seinen Kindern wie ein guter Vater vertraut, ja, sich ihnen in Jesus Christus so sehr anvertraut, dass er Mensch wird.
Der Körper als Medium der Gottespräsenz: Inkarnation für alle
Der Medienwechsel von der Schrift zum Körper wird von Nordhofen weiter vertieft. Im Prolog des Johannesevangeliums wird der Paradigmenwechsel programmatisch angezeigt: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“, wörtlich: „hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen“ (Joh 1,14). Das Christentum ist damit – anders als Judentum und Islam – keine Buchreligion. „Der Medienwechsel von der Buchwerdung zur Fleischwerdung entlastet die Schrift vom Tabu der Unantastbarkeit …“ (C. 195).
Dieser Wechsel des Mediums aber betrifft nicht nur Jesus Christus. Nordhofen weist auf die „Inkarnation für alle“ hin: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, …“ (Joh 1,12f.). Die vier Evangelien sind zwar heilige Schriften, aber sie sind nachrangig gegenüber dem geschichtlichen Offenbarungsereignis, gegenüber der Person Jesu, dem lebendigen Christus, den sie bezeugen. Durch die „Inkarnation für alle“ wird nun jeder Christusgläubige mit seinem beseelten Körper zum Medium der Gottespräsenz. Deshalb der Haupttitel von Nordhofens Buch: „Corpora“.
Würdigung von Nordhofens Entwurf
Im Kreis der Alttestamentler gibt es zum Entwurf Nordhofens eine kontroverse Diskussion. Die einen halten seine Erklärung für eine viel zu einfache Erklärung eines komplexen, evolutiv und mit mehreren Durchbrüchen entstandenen Sachverhalts. Die Entstehung des Monotheismus in Israel hatte viele Gründe, so der Einwand, aber keinen Hauptgrund.
Der ehemalige Wiener Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger betont hingegen, Nordhofen gehe philosophisch an die Frage heran. Es handle sich dabei nicht um eine vereinfachende, sondern um eine vertiefende oder zumindest ergänzende Perspektive: „Nordhofen hat nicht ins Blaue hinein philosophiert, sondern in erstaunlicher Kenntnis der Religions– und Theologiegeschichte Israels und seiner Nachbarn seine These entfaltet. Es ist ihm gelungen, den inneren Kern des biblischen Monotheismus freizulegen und zu zeigen, wie er in seiner Dynamik in der biblisch bezeugten Geschichte zur Entfaltung kommt“ (Die anarchische Kraft des Monotheismus, Eckhard Nordhofens „Corpora“ in der Diskussion, Freiburg, 2021, S. 121)
Der Monotheismus und seine anarchische Kraft heute
Hören wir zu dieser Aktualität Eckhard Nordhofen selbst: „Am Ende gewinnt der JHWH-Monotheismus, die große Alternative zu den funktionalistischen Göttern, in seiner unverwechselbaren Simultaneität von Da–sein und Vorenthaltung eine überraschende Aktualität. Ein usurpatorischer Monotheismus als Ermächtigungsideologie verdient jede Kritik … Wie erst, wenn ein neuer Totalitarismus droht“ (C. 316).
Leo J. O’Donovan, Jesuit und ehemaliger Präsident der Georgetown-Universität in Washington, hat im November 2020 bei einer Rede im Französischen Dom in Berlin eine neue Totalitarismusthese aufgestellt: „Nach dem Ende der obskuranten Totalitarismen der NS-Ideologie, mancher religiösen Fundamentalismen und nach dem Scheitern einer totalitären planwirtschaftlichen Ideologie steuern wir auf einen universalen Funktionalismus zu, von dem wir befürchten müssen, dass er auf neuartige, vielleicht subjektlose Weise totalitär wird.“ (zit. Nach Corpora, S. 306)
Dieser befürchtete neue Totalitarismus ist gesichts- und subjektlos. Funktionales Denken erobert seit der Jahrtausendwende in galoppierender Geschwindigkeit alle Lebensbereiche. In rasanter Beschleunigung ist kein Lebensbereich mehr der Machbarkeit entzogen. Der rein funktionale Ökonomismus wurde schon 1981 von Jürgen Habermas als „Kolonisierung der Lebenswelt“ diagnostiziert. Das funktionalistische Nutzenkalkül eroberte den Sport, die Kunst, das Reisen bis hinein in die Welt des Privaten: Alles wird an der Frage ‚Was bringt mir das?‘ gemessen. „Wenn schlechterdings alles funktionalisierbar ist, kann auch alles vom schwarzen Loch des Totalitarismus aufgesogen werden“ (Corpora, S. 307) Die Frage nach einem archimedischen Punkt außerhalb des Funktionalismus ist so aktuell wie noch nie. Der Blick auf die transfunktionalen Ursprünge des biblischen Glaubens kann uns jedoch helfen, die revolutionäre, anarchische Kraft des Monotheismus neu zu entdecken.
Alle religiösen Vollzüge – die Stille, die Meditation, die Feier, das Fest – sind eine Aktualisierung, ein Üben und Einschwingen ins Transfunktionale, ins absolut Zweckfreie. Die biblische Grundgeschichte der Freiheit, gedeutet für heute, und Riten, die die Gegenwart mit dieser biblischen Grundgeschichte verbinden, wären neben Altbewährtem neu zu entdecken. Daraus müsste ein Ethos erwachsen, das sich dem Wohl aller Menschen und dem Erhalt der Schöpfung verpflichtet fühlt.
Heute hat die Stunde geschlagen, um den Glauben an den einen Gott neu zu beleben!
Lassen Sie jetzt in einigen Augenblicken der Stille diese Impulse auf sich wirken. Was blieb bei Ihnen besonders hängen? Was hat Sie persönlich angesprochen? Wo habe ich Fragen und was blieb mir unverständlich? Was sehe ich anders? Wo gibt oder gab es in meinem Leben dieses Zugleich von Aufblitzen und Vorenthaltung der göttlichen Präsenz?
München, 17.10.2023 - P. Karl Kern SJ