Ansatzpunkt des Buches
Dieser Ausgangslage stellt sich Charles Taylor in seinem fundamentalen Werk A Secular Age. Sein Ausgangspunkt ist die Frage: Weshalb war der Glaube an den christlichen Gott als tragende Sinnstruktur vor einem halben Jahrtausend und noch bis Ende des 18. Jahrhunderts die fraglose Standardoption, während er heute immer mehr die Option einer Minderheit geworden ist?
Taylor beschränkt sich dabei weitgehend auf die katholische Kirche im westeuropäisch-nordatlantischen Raum. Er wehrt sich gegen reine Subtraktionstheorien, nach denen sich die moderne Säkularität durch die fortschreitende rationale Durchdringung der Welt und die Überwindung früherer Erkenntnisgrenzen und Täuschungen quasi zwangsläufig entwickelt habe.
Taylors groß angelegtes Narrativ sieht – im Gegensatz z.B. zu Max Weber, der die entscheidende Wende zur Moderne in der Reformation sah – die Säkularisierung vielmehr als Produkt einer „genuin religiösen REFORM“, die immer in Großbuchstaben geschrieben wird. Dieser Prozess der REFORM begann schon im Mittelalter, als sich die katholische Kirche zunehmend vom Heidentum abhob und einen „reinen“ Glauben propagierte. Der Katholik Taylor rückt also eine nach vorne ausgerichtete Bewegung der Säkularisierung und nicht das rückwärtsgewandte „Gegen“ in den Fokus. Außerdem wendet er sich gegen Erklärungsversuche, welche Glauben und Wissen(schaft) in unversöhnlicher Opposition sehen; so zB, als ob die Entdeckung der Evolution der Arten durch Charles Darwin den Glauben an einen Schöpfergott ad absurdum geführt hätte. Für Taylor steht nicht die naturalistische Entzauberung der Welt allein hinter diesem Prozess, sondern in erster Linie ein radikal neues Selbstverständnis des Menschen. Diesen Prozess will er erklären. Als Philosoph fragt er nach dem wahren Selbst des Menschen.
Die Entstehung des „exklusiven Humanismus“
Das Selbst des Menschen war nach dem Verständnis unseres Autors in früheren Jahrhunderten »porös«, offen und verletzlich, beeinflussbar durch eine Welt voller Geister und fremder Mächte. Heute ist dieses Selbst »abgepuffert«, es vertraut auf seine eigenen Kräfte und etabliert aus ihnen seine eigene moralische Ordnung. Daraus entwickelte sich der heutige „exklusive Humanismus“, also ein Humanismus, der ohne Gott auskommt.
Eine Zwischenphase auf diesem Weg zum exklusiven Humanismus bildete der „providentielle Deismus“ im 18. Jahrhundert: Im Zuge der fortschreitenden Naturerklärung wird das Weltgeschehen durch materialistische, feste Naturgesetze geregelt, die Gott in sie hineingelegt hat. Ansonsten hält sich Gott aus der Welt heraus. Er bleibt ihr in seiner Transzendenz fern. „Providentieller Deismus“ meint also: Alles ist vom Schöpfergott wie eine gut laufende Maschine wohl eingerichtet, sodass er sich zurücklehnen und die Welt sich selbst und ihrem Räderwerk überlassen kann.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts tauchte der moderne Atheismus bei einigen radikalen Aufklärern wie ein frühes Wetterleuchten auf. Die atheistische Lebenseinstellung bestimmte dann gegen Ende des 19. Jahrhundert weitgehend das Weltverständnis der wissenschaftlichen Eliten. Deren Denken wurde weitgehend durch den Prozess der Modernisierung und den Siegeszug der Naturwissenschaften bestimmt. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich die säkulare Lebenseinstellung bei den breiten Massen durch. Sie prägt nach Meinung unseres Autors heute fast durchgängig die Generation der nach 1968 Geborenen.
Taylor nennt diesen rasanten Prozess ab Ende des 18. Jahrhunderts „Nova Effekt“. „Nova“ bezeichnet die explosionsartige Entstehung eines neuen Sterns, der für einen Moment seine ganze Umgebung überstrahlt. „Nova Effekt“ meint also die von der Aufklärung ausgehende Säkularisierung, die nicht nur zu einer vollständigen Veränderung von Staat und Gesellschaft geführt hat, sondern auch zu einem tiefgreifenden Wandel von Identität und Selbsterleben.
Aus einer christlich geprägten kollektiven Glaubens- und Sinnstruktur, in der die Frage nach der eigenen Identität von der Religion beantwortet wurde, erwuchs eine Gesellschaft der Individuen, in der jeder Einzelne für seinen Glauben und Lebenssinn verantwortlich ist. Das heißt: Meine Identität wird nicht mehr durch Gott, Familie oder den Staat bestimmt, sondern durch mich selbst. Die Suche nach dem wahren Selbst und dem richtigen Lebensweg hat die religiöse, familiäre und gesellschaftliche „Einbettung“ ersetzt.
Drei Formen von Säkularität
Worin besteht die heutige Säkularität? Taylor unterscheidet drei ineinandergreifende Formen (12-15):
1) Unsere Gesellschaft funktioniert in ihren Teilbereichen „säkular“, dh rational – ohne dauernden Bezug zu Religion, Gott oder einer höheren, metaphysischen Ordnung. Religion ist Privatsache. Säkularität wird also in Bezug auf die Öffentlichkeit definiert.
2) Säkularität heißt weiter: Religiöser Glaube und das messbare Praktizieren der Religion schwinden, was für Westeuropa sicher zutrifft und was jeder, der sonntags regelmäßig in die Kirche geht, feststellen kann.
3) Die dritte Definition steht in Zusammenhang mit der ersten und zweiten Bedeutung von Säkularität: Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Glaube eine von mehreren Optionen ist. Es gibt ernstzunehmende Alternativen, was es so bis ins 18. Jahrhundert nicht gab. Durch diese Pluralität von Sinnangeboten gewinnt der Glaube allerdings auch neue Chancen und Freiräume. Für Millionen von Menschen allerdings ist der Glaube keine Option, die für sie infrage kommt.
Der Ansatzpunkt Taylors
Säkularität „hängt vom ganzen Verstehenskontext ab, in dem sich unsere Erfahrung und unser Streben auf moralischem, spirituellem und religiösem Gebiet abspielt“ (16). „Verstehenskontext“ meint Sachverhalte, Überzeugungen, die ausdrücklich formuliert sind samt dem impliziten religiösen, metaphysischen Hintergrund und Rahmen unseres Verstehens. Dieser Wandel hin zur öffentlichen Säkularität ist das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses, den Taylor in seinem großen Werk nachzeichnen will.
Dabei behandelt er den Glauben nicht auf der Ebene miteinander konkurrierender Theorien (Christliche Glaubenssätze versus Glaube an Wissenschaft oder Vernunft). Er richtet sein „Augenmerk auf die verschiedenen „Formen des Erlebens“, also auf die „inneren Erfahrungen“ (18). Es geht ihm darum, verschiedenste Formen „unseres moralisch-spirituellen Lebens“ (18) zu erfassen und darzulegen.
Sein Grundansatz dabei lautet: Wo und wie erleben Menschen Augenblicke der „Fülle, Freude und der Erfüllung“ (18), die in unserer alltäglichen Welt aufscheinen, manchmal hereinbrechen und uns ganz durchdringen? Das muss nicht immer ein erhebendes oder erschreckendes Grenzerlebnis sein, also das häufig zitierte „mysterium tremendum et fascinosum“, das Erleben des Heiligen als anziehend-faszinierendes und schaudernd-schreckenerregendes Widerfahrnis. Erleben von Fülle kann auch im ganz Normalen auftreten, zB: Wir fühlen uns im Alltag mehr und mehr „geeint und plötzlich tatkräftig und voller Energie“ (20). Solches Erleben geschieht an „Orten der Fülle“, wie Taylor es nennt. Sie geben uns Orientierung, können uns aber auch wirr und rätselhaft erscheinen und uns ratlos zurücklassen.
Wer solches Erleben in Worte fassen oder in Riten begehen kann, steigert noch einmal das Erleben selbst, auch wenn es kaum fassbar ist. Aus solchen Fülleerfahrungen kann sich sowohl eine innere Wegweisung für unser ganzes Leben als auch Überdruss am Leben entwickeln, also eine Art Ausgestoßen Sein aus der Normalität. Denn man hatte einmal gespürt, was erfülltes Leben sein könnte, aber man weiß nur zu genau: Diese umwerfende und erfüllende Erfahrung ist im normalen Leben nicht auf Dauer zu haben. Deshalb kann einem das Normale so leer, so fremd oder gar abstoßend vorkommen.
Allerdings können solche Erfahrungen von Fülle auch in einen stabilisierten Mittelzustand führen, den wir normalerweise anstreben, also ein Leben in Ordnung und Routine. Manchmal können sich diese unterschiedlichen Formen des Erlebens auch abwechseln, aber der Mensch strebt innerlich immer wieder auf diesen „Ort der Fülle“ zu. „Ich besaß es doch einmal - Was so köstlich ist! - Dass man doch zu seiner Qual - Nimmer es vergisst!“, so heißt es in Goethes Gedicht „An den Mond“.
„Fülle“ und Transzendenz
Dieser „mittlere Zustand“, dh erfolgreich sein und das Leben möglichst in seiner Ganzheit auskosten, ist für Gläubige und Nichtgläubige das Gewöhnliche. Für Gläubige ist dieser Zustand allerdings noch steigerungsfähig. Denn Leben hat bei aller Zufriedenheit mit dem Hier und Jetzt einen Mehrwert (Erlösung, Heiligkeit, Leben nach dem Tod) (22). Der Nichtgläubige meint, über das Wesentliche zu verfügen, wenn er zB in Ehe, Beziehungen und Beruf, also im rein Menschlichen, seinen Seelenfrieden, sich selbst in seiner Ganzheit gefunden hat.
Der Gläubige hingegen sagt: Das Hier und Jetzt kann mir nicht den ganzen Seelenfrieden geben. Sein Streben richtet sich auf etwas, was „jenseits“ des gegenwärtigen Ortes liegt. Es ist die Sehnsucht nach dem Transzendenten. Der „Ort der Fülle“ verlangt aus Sicht des Gläubigen eine Bezugnahme auf Gott (23), was für Nichtgläubige nicht gilt. Sie lassen den vom Menschen unterschiedenen Urgrund der Fülle offen und beschränken sich auf die Fülle des menschlichen Potentials.
Bei der Erfahrung von Fülle gibt es eine große Vielfalt des Erlebens. Gläubige sagen, dass die Fülle ihnen zuströmt, was in eine Praxis der Verehrung, des Gebets, der Barmherzigkeit und des Gebens mündet. Sie sind sich dabei bewusst, dass sie, eingeschlossen in ihre menschliche Begrenztheit, von der wahren Fülle noch weit entfernt sind. Doch können sie aus der Kraft einer stetig gepflegten Beziehung zu Gott immer wieder Momente der Fülle erfahren. Das kleine, rational geprägte Ich muss sich – das ist die Erfahrung des Glaubens – durch die Grundbeziehung zu Gott und durch menschliche Beziehungen immer neu weiten und läutern lassen hinein in die unbegrenzte Weite des Selbst. Im Buddhismus steht die Überwindung des Ego hin zum wahren Sein im Mittelpunkt, im Christentum ist es die Liebe.
„Fülle“ und Immanenz
Für den neuzeitlichen Menschen unseres Kulturkreises ist die Kraft, zu Momenten der Fülle zu gelangen, eine immanente, uns innewohnende Kraft. Dabei gibt es zwei Richtungen: Die eine, vom wissenschaftlich-rationalen Denken herkommende Auffassung stellt den Menschen als Vernunftwesen in den Mittelpunkt. Das hebt ihn über sich selbst als Triebwesen hinaus. Die andere, mehr existentialistisch geprägte Denkrichtung sagt: Die Kraft des Moralisch-Spirituellen liegt in uns selbst. Als schwache, aber mutige Wesen stellen wir uns den Herausforderungen und der Sinnlosigkeit des Universums. Das wäre in etwa die Position von Albert Camus, wie er sie in der Neuinterpretation des Mythos von Sisyphos herausstellt: Man solle sich Sisyphos trotz dauernder Erfolglosigkeit als „glücklichen Menschen“ vorstellen. Ich würde halbironisch mit einem Jesuswort dazu sagen: „Wer es fassen kann, der fasse es!“
Doch gibt es – wie in einem entgegengesetzten Pendelschlag – auch die Kritik der Romantik an der ungebundenen, überheblichen Vernunft. Die Kraft der Fülle liegt nach dieser Auffassung in den Tiefen des eigenen Inneren und in der Natur. Sie ist eine immanente Kraft. Und die Hauptaufgabe besteht darin, den Bruch zwischen Natur und Vernunft zu heilen.
Andererseits gibt es Auffassungen, die den Bruch zwischen Vernunft und Natur für unheilbar halten: Es gibt kein Zentrum, weder innerhalb noch außerhalb des Menschen. Fülle ist grundsätzlich nicht ausfindig zu machen. Viele postmoderne Denker dieser Richtung entnehmen Anleihen bei Friedrich Nietzsche.
„Fülle“ unter heutigen Bedingungen
Taylor will – das ist sein Grundansatz – Glauben und Nichtglauben als Formen des Erlebens und Erfahrens des moralisch-spirituellen Lebens aufzuzeigen. Dabei geht es immer um den Ursprung jener Kraft, die uns auf den Weg zu dieser Fülle bringen kann, ob diese Kraft etwas „Inneres“ oder „Äußeres“ ist.
Unserer Zeit ist es eigen, dass es, wie bereits betont, vielfältige Deutungsmöglichkeiten des Lebens gibt. Dabei lebt jeder reflektierte Mensch unter den Bedingungen des Zweifels und der Ungewissheit, was sowohl für Gläubige als auch für Nichtgläubige gilt. Die alten Formen der fraglosen Gewissheit sind heute großenteils verschlissen (30). Wir können die Welt nicht mehr so unmittelbar „naiv“ (Schiller) wahrnehmen, wie zB die Menschen zur Zeit von Hieronymus Bosch, die seine Schreckenszeichnungen des Grauens und Ausgestoßen Seins ganz unmittelbar in sich aufnehmen konnten. Wir haben heute für alles „Theorien“ (psychologisch, sozialgeschichtlich) parat.
Heute begreifen alle ihre eigene Option als eine unter vielen. Keiner ist mehr „naiver“ Theist oder Atheist. Eine der chassidischen Geschichten, die Martin Buber gesammelt hat, lautet: Einer der Aufklärer, ein sehr gelehrter Mann, der vom Berditschewer gehört hatte, suchte ihn auf, um auch mit ihm, wie er’s gewohnt war, zu disputieren und seine rückständigen Beweisgründe für die Wahrheit seines Glaubens zuschanden zu machen. Als er die Stube des Zaddiks betrat, sah er ihn mit einem Buch in der Hand in begeistertem Nachdenken auf und nieder gehen. Des Ankömmlings achtete er nicht. Schließlich blieb er stehen, sah ihn flüchtig an und sagte: »Vielleicht ist es aber wahr.« Der Gelehrte nahm vergebens all sein Selbstgefühl zusammen – ihm schlotterten die Knie, so furchtbar war der Zaddik anzusehn, so furchtbar sein schlichter Spruch zu hören. Rabbi Levi Jizchak aber wandte sich ihm nun völlig zu und sprach ihn gelassen an: »Mein Sohn, die Großen der Thora, mit denen du gestritten hast, haben ihre Worte an dich verschwendet, du hast, als du gingst, drüber gelacht. Sie haben dir Gott und sein Reich nicht auf den Tisch legen können, und auch ich kann es nicht. Aber, mein Sohn, bedenke, vielleicht ist es wahr.« Der Aufklärer bot seine innerste Kraft zur Entgegnung auf; aber dieses furchtbare »Vielleicht«, das ihm da Mal um Mal entgegenklang, brach seinen Widerstand. Doch der Rabbi antwortete nur: „Vielleicht ist es wahr!“
Natürlich gibt es auch sehr grobschlächtige, fundamentalistische Irrtumstheorien in allen Lagern. Doch hat sich in unserer westlichen Kultur die Vorannahme des Nichtglaubens mehr oder weniger durchgesetzt. Die große Frage an alle Optionen ist, inwieweit ihre Vertreter den eigenen Standpunkt „naiv“ oder „reflektiert“ ins eigene Leben einbeziehen.
Heutiger Glaube
So gesehen ist der heutige Glaube etwas ganz anderes als etwa im Jahre 1500. Es gibt heute nicht mehr den festen Rahmen des „Hintergrunds“. Die „Störung der Naivität“ führt zu Wandel und tieferem Verständnis. Unsere Unterscheidungen zwischen immanent und transzendent, zwischen natürlich und übernatürlich, haben mit der Zerrüttung des früheren Rahmens zu tun. Es heißt, die Transformationsgeschichte dieses lange Zeit „naiven Rahmens“ der vormaligen theistischen Lebensdeutung zu verstehen, um zu begreifen, warum heute – unter „reflektierten“ Rahmenbedingungen – so viele ihr Leben eher atheistisch deuten. Dieser Wandel impliziert auch eine Veränderung der Glaubenserfahrung.
Das Gefühl, Fülle sei an einem „jenseitigen Ort“ zu finden, kann allerdings auch heute über Menschen als Erfahrung hereinbrechen und dann zum Ausgangserlebnis einer Lebensüberzeugung werden. Transzendenzerfahrungen sind zweifelsohne auch in unserer Zeit möglich. Für mich stellt sich dabei die Frage: Bietet die Kirche heute einen Erfahrungsraum und -rahmen, der die nachwachsende Generation anspricht? Das müsste das Grundanliegen aller Reformbestrebungen sein! Den wertvollen Schatz der Tradition für heute aufzubereiten und kreativ weiterzuentwickeln, wäre das Gebot der Stunde!
Menschliches Wohlergehen und letztes Ziel
Um das heutige Lebensgefühl deutlicher zu verstehen, müssen wir noch eine wichtige Unterscheidung bedenken: Im herkömmlichen Christentum besteht eine grundlegende Spannung: Alles ist auf das menschliche Gedeihen und Glück ausgerichtet „Damit es dir wohl ergehe und du lange lebst auf der Erde“ (Eph 6,3), ist ein Verheißungswort, das sich an das Gebot, die Eltern zu ehren anschließt und das für das gesamte religiöse Leben gilt. Andererseits kann das Streben nach Wohlergehen nicht das letzte Ziel sein. Ja, Gott will zwar das menschliche Gedeihen, doch im Mittelpunkt steht Gott selbst, der auch Verzicht verlangen kann, sei es um anderer willen oder zur Wiederherstellung einer höheren Form des Gedeihens (40f). Warum betont Taylor auf der einen Seite das menschliche Wohlergehen und stellt auf der anderen Seite die darüberhinausgehenden Ziele heraus, die aus dem Glauben an Gott folgen? Weil er das Wesen des neuzeitlichen Atheismus im ausgrenzenden, selbstgenügsamen Humanismus sieht.
Dieser ist zwar aus einer bestimmten religiösen Tradition hervorgegangen, „Humanismus“ ist heute jedoch „eine Einstellung, die weder letzte Ziele, die über das menschliche Gedeihen hinausgehen, noch Loyalität gegenüber irgendeiner Instanz jenseits dieses Gedeihens akzeptiert“ (41). Und weiter schreibt Taylor: „Eine säkulare Epoche ist eine, in der der Niedergang aller über das menschliche Gedeihen hinausgehenden Ziele denkbar wird. Besser gesagt: Dieser Niedergang gehört für sehr viele Menschen zum Bereich der vorstellbaren Lebensweisen. Das ist der entscheidende Zusammenhang zwischen Säkularität und dem selbstgenügsamen Humanismus.“ (43,44) In der vorneuzeitlichen Ordnung stand nicht der Mensch an der Spitze der kosmischen Ordnung, sondern vielerlei höhere Wesen. Die Verehrung dieser Wesen galt als wesentliches Element menschlichen Gedeihens.
Religion, Glaube als Bezug zur Transzendenz
Dementsprechend wird Religion heute im Sinne von „Transzendenz“ verstanden. Dieser transzendente Gott ist jedoch aus dem Zentrum des sozialen Lebens verdrängt: Es gibt nur säkularisierte öffentliche Räume (Säk.1). Der Niedergang der religiösen Praxis und des Glaubens an Gott ist eine unübersehbare Tatsache (Säk. 2). In diesem neuen Kontext können allerdings auch neue Optionen für den Glauben entstehen (Säk.3).
Um heute das Verhältnis von Religion und „Jenseits“ besser zu verstehen, sollten wir drei Dimensionen betrachten. Die wichtigste Dimension: Es gibt einen Wert, der über das menschliche Gedeihen hinausgeht (1). Für das Christentum ist das die Liebe Gottes zu uns, an der wir im Glauben durch seine Kraft teilhaben (2). Dadurch wird uns eine Möglichkeit der Verwandlung angeboten (3), die über bloß menschliche Vollkommenheit hinausführt: im Glauben an eine höhere Macht kann der Glaubende über die natürliche Spanne von Geburt und Tod hinausgreifen.
Diese dreidimensionale Sicht der Transzendenz vom absoluten, über das Menschliche hinausgehenden Wert, der im Christentum die göttliche Liebe ist, und der dadurch ermöglichten Verwandlung des Menschen wäre heute immer zu bedenken.
Zeitalter der Authentizität
Die von Taylor beschriebene Entwicklung hin zum säkularen Zeitalter, also zum immanenten Rahmen des Erlebens, zum „abgepufferten Ich“ (Individualisierung) und zum ausgrenzenden, selbstgenügsamen Humanismus hat nach der Ansicht von Taylor erst in der Generation der nach 1968 Geborenen ihre volle Durchschlagskraft entwickelt. Nach ihm stehen wir heute im „Zeitalter der Authentizität“, der Suche nach Ganzheit und Echtheit. Diese Suche nach ganzheitlicher Identität wird beantwortet durch Lebensstil, Wohnen, Esskultur, Reisen, ökologisches Bewusstsein und vieles mehr. Dadurch wird die individuelle Authentizität markiert. Gesteigert wird diese durch intensive Erfahrungen, sei es in der Natur, der Kunst, im Sport oder in tollen Events. Das ganze Leben ist dabei von den eigenen Sinnstrukturen geprägt: in Kindererziehung, in der Art der Selbstverwirklichung, der Gesundheitspflege, des kulturellen Konsums oder der Entwicklung der eigenen Kreativität.
Die Suche nach Authentizität endet nicht immer erfolgreich. Viele Individualisierungsversuche scheitern. Das wahre Selbst wird oft nie gefunden. Die erhoffte Erfüllung bleibt aus. Zurück bleiben Selbstzweifel, Überforderung, Dauerkrisen. Die Grenzen der Selbstoptimierung liegen offen zutage.
Glaube im Zeitalter der Authentizität
Diese Sehnsucht nach wirklich authentischer Ganzheit mit uns selbst, in unseren Beziehungen, mit der uns umgebenden Gesellschaft, mit der Einen Welt und mit der Schöpfung – diese Suchbewegung wirklich ernsthaft durchlebt und durchdacht, könnte allerdings gerade heute neu zum Gott der Bibel führen. „Geh Deinen Weg vor mir und sei ganz“ (Gen 17,1), wie Martin Buber übersetzt, bleibt ein überzeitlicher Impuls, gerade heute in einem Zeitalter des extremen Individualismus und der Atomisierung des Einzelnen, in einer Zeit labiler Gesellschaftsformen, neuer Totalitarismen und Nationalismen, und nicht zuletzt angesichts massiver Bedrohungen unserer Lebensgrundlagen.
Wäre nicht unser Zeitalter der vernetzten Einen Welt gerade jener treffende Kairos, um in einem wirklich umfassenden Sinn ganzheitlich zu denken und den Menschen als Hüter und Bewahrer des göttlichen Gartens, unseres wunderbaren blauen Planeten, zu begreifen? Der Mensch ist nach biblischer Vision das freie Gegenüber Gottes, um für das Gedeihen des Ganzen in Liebe und Gerechtigkeit die Verantwortung zu tragen, um, überspitzt gesagt, die Stelle Gottes zu übernehmen – nicht in blinder Überheblichkeit, sondern in dankbarer Demut vor dem Gott, der alles erschaffen hat und alle in seiner Liebe vollenden will.
Lassen Sie mich mit einem Satz von Charles Taylor schließen. Dieser Satz könnte nach einer kurzen Pause und nach einer Phase der Rückfragen einen Raum für Nachfragen und Gespräch eröffnen. Der Satz lautet: „Wir stehen jedenfalls erst am Anfang eines neuen Zeitalters der religiösen Suche, deren Ergebnis niemand vorhersehen kann.“ (895)