Lieber Dr. Huth, ich möchte mich als erstes bei Ihnen bedanken: Sie haben ein sehr wertvolles Buch geschrieben, ein Buch, das in unseren Tagen noch nötiger ist als vor 40 Jahren. Es passt in eine Zeit lediglich hektischer Krisenbewältigung und neuer nationaler Ideologien, eine Zeit, in der wahnhafte politische Führungsgestalten Oberwasser bekommen und Kriege anzetteln und die Angst vor der großen Katastrophe nähren. Ihr Buch passt nicht zuletzt in eine Epoche, in der die Zugehörigkeit zu den christlichen Kirchen sehr vielen Menschen immer weniger bedeutet.
Ob der Glaube schwindet, dahinter ist nach der Lektüre Ihres Buches ein großes Fragezeichen zu setzen. Man hat den Eindruck: der irregeleitete Glaube, das Sich-Versteifen auf kurzlebige Ideologien und wahnhafte Selbsttäuschungen nehmen in dem Maße zu, wie der wahre Glaube schwindet. Wir leben heute in einer Zeit des „verbildeten Glaubens“ (Viktor Frankl), des Aberglaubens.
Sie analysieren den Glauben von seiner psychischen, psychodynamischen Seite her und sehen ihn als ein „zentrales, ganzheitliches menschliches Phänomen“ (373), wohingegen „Ideologien und Wahn … Irrformen des Glaubens“ (373) sind. Sie setzen dabei „Glauben“ nicht „mit religiösem Glauben“ gleich (117). Es geht Ihnen als Psychologen und Arzt um das „allgemeinmenschliche(s) Phänomen“ (117) des Glaubens.
Anders gesagt: Für Sie ist der Mensch nicht unrettbar religiös, aber „unrettbar gläubig“, und das in allen Schattierungen der Wortbedeutung, lateinisch gesprochen: vom vorpersonalen „putare“, „vermuten“, bis zu personalem oder gar transpersonalem „credere“, „sein Herz geben“. Sie sehen den „Glauben“ „als personalen Vorgang von äußerster Komplexität“ (161) im Gegensatz zu den ideologischen und wahnhaften „Zerrformen des Glaubens“.
Ideologen pressen den Glauben in ein klar definiertes System, Wahnkranke, die vom Zerfall ihres Ich bedroht sind, schaffen sich ein illusionäres Ego-Reich des Glaubens. So unterschiedlich diese zwei verbildeten Schwundformen des Glaubens sind, sie wurzeln beide im Narzissmus, in der Reduktion von Wahrnehmung und in existentieller Angst. Der Wahnhafte lebt seine „Es-Anteile“ in der scheinbaren Steigerung der Lust, der Ideologe ordnet sich einem „Über-Ich“, zB dem großen Führer oder der definitiven Heilslehre, unter und gibt damit seine Freiheit auf.
„Glauben“ ist für sie ein Lebensprozess, der sich entwickelt im magischen Dreieck von Ichidentität in allen vielschichtigen Dimensionen, von Zuwendung zur Wirklichkeit in ihrer Ganzheit und von der personalen Zuwendung zum Du und zur Mitwelt. Ideologien und Wahn sind weder ganzheitlich noch werden sie der Interpersonalität und dem tieferen Selbst des Menschen gerecht.
Ihr Ansatz liegt bei der indogermanischen Wurzel des Wortes „Glauben“ = „leubh“, „die mit folgenden seelischen Funktionen zusammenhängt: etwas begehren, liebhaben, loben, gierig verlangen, für gut und wertvoll halten, nachgeben, sich freundlich erzeigen, vertrauen“ (166). Glauben wird damit zu einer aktiven Haltung des ganzen Menschen und ist innerlich verbunden mit der ganzheitlichen, produktiven Haltung der Liebe.
Lieber Werner Huth, bei Ihrem psychologischen Nachdenken über den Glauben ist Ihnen sehr bewusst, dass das Offenlegen psychischer Strukturen immer nur auf dem Hintergrund philosophischen Überlegens möglich ist. Schließlich haben Sie auch hier an der Hochschule doziert! Wenn Sie sich in ihrem Buch zum religiösen Glauben äußern, wenn es also beim Glauben um das sich vertrauend-liebende Einlassen auf eine letzte Wirklichkeit geht, dann muss das allgemeinmenschliche Phänomen „Glauben“ im Horizont theologischer Fragen bedacht werden. Auch dessen sind Sie sich als Psychologe sehr bewusst.
„Glauben“ im religiösen Sinn lebt von der Erfahrung der Transzendenz, von der „Erfahrung des Umgreifenden“ (141) und ist damit eine geistig-personale Grunderfahrung. Es geht in jeder geistigen Erfahrung darum, dass der Mensch über seine „natürliche“ Erfahrung hinausgeht, um durch Überlegen, Einschätzen, Bewerten, Suchen und immer neu Finden über alles Vorgegebene hinauszugreifen. Sie zitieren in Ihrem Buch immer wieder Karl Rahner als theologischen Gewährsmann, den Sie von Ihrer Zeit an der Hochschule her als Kollegen schätzen gelernt haben. Rahner sieht den Menschen als Wesen der „Selbsttranszendenz“, d.h. der Mensch muss über sich hinausgehen, um zu sich selbst, zu seiner Identität zu kommen. Transzendenzerfahrungen machen die Menschen auch in unserer Gegenwart. Deren religiöse Deutung befindet sich allerdings heute in einem epochalen Funktionswandel, der in den Großkirchen noch nicht adäquat erfasst wird.
Auszugehen ist vom Rahnerschen Grundgedanken, Gott als das unauslotbare Geheimnis unseres Daseins ins Zentrum zu rücken. Alle Religionen stehen vor dem Mysterium, das wir Gott nennen. „Glaube ist“ – Sie zitieren Karl Jaspers – „kein Wissen von etwas, das ich habe, sondern die Gewissheit, die mich führt.“ (159) Glaube lebt von einer Tiefengewissheit, einem Ur-Vertrauen, das letztlich nicht beweisbar ist. Diesem existentiellen Akt entziehen sich sowohl Ideologen als auch wahnhafte Menschen. Sie leben und deuten von lediglich einer Ichfunktion her die gesamte Wirklichkeit – vom Über-Ich her der Ideologe und vom Es her der Wahnkranke. Sie leben damit nach Ihrer Diagnose an der Wirklichkeit und an ihrer Identität vorbei. Verdrängung der ganzheitlichen, vielschichtigen, auch oft widersprüchlichen Dimension des Wirklichen ist das Grundmuster bei beiden Fehlformen.
Ich möchte anhand der exemplarischen Glaubensgestalt des heiligen Paulus die von Ihnen herausgestellten Unterschiede zwischen „Glaube, Ideologie und Wahn“ verdeutlichen. Dabei ist anzumerken: Die klaren Abgrenzungen sind begrifflicher Natur. In einem realen Menschen wie in den real existierenden Religionen sind immer Elemente des Glaubens auch mit Ideologie oder gar wahnhaften Vorstellungen durchsetzt. Das Höchste und Innerste kann immer auch leicht übers Ziel hinausschießen, umkippen oder gar pervertiert werden! Betrachten wir deshalb den Menschen Paulus, der von manchen als Chefideologe des Christentums gebrandmarkt wird. Nach der Lektüre Ihres Buches ist mir noch einmal klarer geworden: Paulus ist der Typ des exemplarisch Glaubenden, kein Ideologe und auch kein Phantast!
Für ihn (Paulus) ist „Glauben“, griechisch „pistis“, immer ein grundlegend zweiseitiges Geschehen. Der Gott Israels – das ist sein umwerfendes und sein ganzes Leben und Denken zentrierendes Widerfahrnis vor Damaskus – hat sich in Jesus als vorbehaltlose Liebe ihm, dem gläubigen Juden, und allen Menschen mit „pistis“ zugewandt und dieser Gott lädt jeden ein, sich mit „pistis“ ihm, dem liebenden Gott, zuzuwenden. Der Glaube an diese unbegreifliche Liebe ist also von seinem innersten Wesen her ein dialogisches Geschehen gegenseitigen „Trauens“.
Beim Ideologen und beim Wahnhaften legen Sie, Dr. Huth, immer eine tiefliegende Störung zum Mitmenschen und zur Wirklichkeit frei. Glaube dagegen ist ein dauerndes, immer neu suchendes Gespräch mit dem, der hinter und in allem Wirklichen sich suchen und finden lässt. Die Verkündigung des heiligen Paulus ist deshalb immer interpersonal geprägt. Er arbeitet sehr vertrauensvoll zusammen mit einem Stab von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Er wendet sich, wenn er weiterreist in der kommunikativen Form des Briefes an seine Gemeinden. Er geht auch als Missionar seinem Brotberuf als Zeltmacher nach. Er teilt den gewöhnlichen Alltag mit seinen Leuten. Die Gemeinde versammelt sich in Privathäusern, Menschen aller Schichten treffen sich zum gemeinsamen liturgischen und realen Mahl, wo sich jeder und jede mit seiner Geistesgabe einbringen kann. Die anliegenden Probleme werden gemeinsam in der Gemeindeversammlung besprochen. In Summa: Paulus lebt im dauernden Dialog mit Gott und den Menschen. Diese Grundhaltung ist Ideologen und Wahnhaften fremd.
In diesem Sinn ist „Glauben“ ein Prozess, der ein Leben lang gepflegt werden muss, und zwar als offener Prozess, der sich den Widersprüchen der Realität immer neu stellen muss. Der Glaube kennt die „Erschütterlichkeit“, er ist nicht einfach „absolute Gewissheit“. (152) Vielmehr hält er die manchmal unerträglichen Antinomien aus und versucht, sie als Ambiguitäten, als polare Spannung zu begreifen und fruchtbar zu machen.
Paulus verkündet zB enthusiastisch die „Erwählung“ der Heiden durch den Gott Israels (vgl. 1 Thes 1,4), aber er misst die Tragfähigkeit des Glaubens der Neubekehrten daran, dass sie die Schwierigkeiten des Alltags und des Miteinanders, dass sie die Sorgen, das Widerständige der Umstände und der Schöpfung annehmen. Das, und nicht gleich das Martyrium, ist für ihn Kreuzesnachfolge (vgl. 1 Kor 1,18-25).
Seine Tiefengewissheit sagt ihm: Der allmächtige Gott und Vater Jesu Christi hat mich durch die Erfahrung des Auferstandenen erfasst und gepackt! Obwohl Paulus auch nach seinem Erleuchtungserlebnis vor Damaskus nicht alles begreift, geht, ja stürmt er dennoch voller Hoffnung der Zukunft Gottes entgegen. „Nicht, dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, um es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin“, bekennt er im Philipperbrief (Phil 3,12). Im Gegensatz zu dieser offenen Haltung leben Ideologen und Wahnkranke in einer selbstgezimmerten Scheinsicherheit. Sie bleiben eingeschlossen im Gefängnis ihres kleinen Ego und der Endlichkeit.
Aus dem Glauben gewinnt der Missionar Paulus eine schier ungeahnte Überzeugungs- und Gestaltungskraft, eine Kraft des Durchhaltens und der Begeisterung. Er kleidet das Innerste seiner Mystik in die Formel: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir!“ (Gal.2,20) Er partizipiert an der Kraft des Göttlichen. In einem persönlich gefärbten Konflikt mit einem Teil der Gemeinde von Korinth „outet“ er sich und spricht von seinen einzigartigen mystischen Erfahrungen, doch er bekennt gleichzeitig, dass ihm „ein Stachel ins Fleisch gestoßen sei: ein Bote Satans, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe“. Als Steigerung seiner Visionen und Offenbarungen rühmt er sich seiner Schwachheit und sein intimstes Bekenntnis gipfelt in dem Satz: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark!“ (Vgl. 2 Kor 12,1-10) Diese Spannung, die Partizipation an göttlicher Kraft bei gleichzeitiger Erfahrung des eigenen Elends produktiv auszutragen, kann nur ein „pontifex oppositorum“ (Brückenbauer der Gegensätze) – wie Ihr Lehrer Leopold Szondi den Glaubenden charakterisiert. Ein Ideologe müsste alles, was gegen seine Lehre spricht, bekämpfen oder gar ausrotten. Ein Wahnkranker würde die Gegensätze leugnen oder überspielen. Paulus dagegen kann bekennen: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!“ (2 Kor 3,17) Hier spricht ein Mensch, der zu seiner wahren Identität gefunden hat.
Nicht von ungefähr spricht Paulus von Glauben und Lieben in einem Atemzug. Er hat die Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe geprägt. Als er das zum ersten Mal in seinem frühesten Brief an die Gemeinde von Thessalonich tut, redet er bezeichnenderweise von der „Anstrengung eures Glaubens, von der Mühe eurer Liebe und von der Ausdauer eurer Hoffnung“ (1 Thes 1,3; Übersetzung Norbert Baumert). Paulus erdet diese göttlichen Tugenden! Das Hohelied der Liebe im Ersten Korintherbrief (1,1-13) ist bis heute ein Lieblingstext bei Hochzeiten. Dieser Hymnus auf die Liebe hat nichts von seiner Frische und Kraft eingebüßt – und dabei ist nie von Gott die Rede, außer indirekt: in dem Sinne, dass er, Paulus, ergriffen ist, natürlich vom Gott der Liebe, und nur deshalb so enthusiastisch und realistisch zugleich reden kann.
Den nicht abbildbaren Gott als geheimes Subjekt ins Spiel zu bringen und nicht direkt als Subjekt zu benennen, ist gute jüdische Theologie. Die Liebe, wie sie Jesus vorgelebt hat, ist für Paulus die Erfüllung der ganzen Tora. Liebe ist für ihn die Grundformel des gesamten Weltalls. Selbst die fernsten Sünder sind von Gott „gerechtfertigt“, geliebt und können in der Perspektive der Hoffnung leben (Vgl. Röm 1,17; 5,1-5), „als Glaubende, nicht als Schauende“ (Vgl. 2 Kor 5,7). Glaube, Liebe, Hoffnung in solch spannungsvoller Einheit sind Grundhaltungen, welche der Ideologie und dem Wahn fremd sind.
Wohlgemerkt: In einem konkreten Menschen sind die Anteile von Glaube, Ideologie und Wahn nie ganz auseinanderzuhalten und zu trennen. Von daher, lieber Dr. Huth, ist und war Ihr Buch auch für mich eine gute Übung in Selbstbesinnung gewesen, um meinen eigenen Glauben und die offiziell formulierten Glaubenssätze meiner Kirche immer neu von ideologischen oder gar wahnhaft-verdrängenden Elementen zu reinigen und läutern zu lassen. Nochmals herzlichen Dank für Ihre hilfreichen Ausführungen!