Leben und Werdegang
Alfred Delp wurde am 15. September 1907 in Mannheim geboren und zwei Tage später katholisch getauft. Er stammte aus für die damalige Zeit sehr ungeordneten Verhältnissen: Seine Mutter Maria kam aus einer urkatholischen Familie. Sein Vater Johann Adam, eingelernter Kaufmann, später bei einer Krankenkasse angestellt, entstammte einer seit Generationen protestantischen Familientradition, aus der eine Reihe von Geistlichen hervorgingen. Die beiden hatten bereits eine gemeinsame Tochter und waren auch bei Alfreds Geburt noch nicht verheiratet. Erst im Oktober 1907 wurde die Ehe formell geschlossen. Eine konfessionsverschiedene, „wilde“ Ehe – dazu mussten die jungen Eltern Anfang des 20. Jahrhunderts viel Mut aufbringen! Die Ehe der Eltern bot auch reichlich Konfliktstoff in der Verwandtschaft.
Die Familie zog 1914 nach Lampertheim, einer südhessischen Arbeiterstadt mit gut 8000 Einwohnern. In der überwiegend evangelischen Stadt fand man ab 1923 mit den inzwischen sechs Kindern eine Wohnung in einem katholischen Vereinsheim. Alfred besuchte – es gab zur damaligen Zeit nur Konfessionsschulen – die evangelische Volksschule, was vermutlich der protestantischen Umgebung geschuldet war. Er bekam jedoch auch über die Mutter Kontakt mit dem katholischen Pfarrer. Die Geschwister gingen sonntags in die katholische Kirche, besetzten dort eine Bank, auch mit einem Platz für die Mutter, die immer erst in letzter Minute dazukam. Der Vater blieb zuhause. Die Familie lebte karg, war aber bei all dem sehr gesellig und miteinander verbunden.
Alfred war ein unternehmungslustiger Junge, ein „Strick“, wie er noch aus dem Gefängnis seiner Sekretärin schrieb. „Lass dir von meiner Mutter keine ‚Heiligenlegenden‘ über mich erzählen,“ legt er ihr nahe. (Zeuge, S. 22) Der wilde Lausbub war allerdings beim Religionsunterricht immer sehr aufmerksam. Beim Konfirmandenunterricht 1921 kam er zu spät. Seine Erklärung, er sei beim katholischen Pfarrer gewesen, führte zu einer Ohrfeige durch den evangelischen Pfarrer. Der 14jährige kehrte daraufhin der evangelischen Kirche den Rücken und empfing nach der Konfirmation die Erstkommunion und die Firmung. Der junge Kerl muss große innere Autarkie besessen haben!
Der katholische Pfarrer erkannte in ihm schon früh den religiös Interessierten und Hochbegabten und schickte ihn deshalb nach Dieburg ins katholische Bischöfliche Seminar. Er war in der Schule kein Musterknabe, geschweige denn ein Streber, doch zweimal übersprang er eine Klasse und legte als Klassenbester das Abitur ab. Er wird von seinen Kameraden als hilfsbereit und nicht immer bequem, als unbändig und unruhig beschrieben – und oft konnte er vor Lachen explodieren. Prägend war für ihn seine aktive Mitgliedschaft im Bund Neudeutschland, jenem Teil der katholischen Jugendbewegung, die nach dem 1. Weltkrieg einen Neuanfang setzen wollte: Gemeinschaft, Natur, Wanderungen, Lagerfeuer, Protest gegen die verstaubte bürgerliche Welt, Eigenverantwortung, Aufbau eines erneuerten Deutschland – das waren die Ideale, zusammengefasst in dem Motto: „Christus – Herr der neuen Zeit!“
Nach dem Abitur 1926 entschied sich Alfred, Jesuit zu werden, sehr zur Enttäuschung seines Heimatpfarrers, der ihn auf das Germanicum, das katholische Eliteseminar in Rom, schicken wollte. Stattdessen trat Delp ins Noviziat in Tisis, Vorarlberg, ein. Seine hohe intellektuelle Begabung, seine enorme Belesenheit und sein Dickschädel fielen schon damals auf. Er sprühte vor Energie und Idealismus und hatte breitgestreute Interessen, eckte aber auch durch eine gewisse Schroffheit an. Er schien sehr von sich eingenommen, aber auch in sich verschlossen. Sein Verhältnis zu den Eltern war angespannt, denn es zog ihn über alles Kleine, Umgrenzte und Enge hinaus, was mit einem Familiensystem halt auch verbunden ist. Drei Wochen vor seinem Tod konnte er sich jedoch gegenüber seiner Mutter sehr unbefangen und zärtlich äußern.
1928 wechselte er an das 1925 gegründete Berchmanskolleg in Pullach, den Vorläufer unserer heutigen Hochschule. Sein Hauptinteresse galt der zeitgenössischen Philosophie und sozialen Fragen. Mit 28 Jahre veröffentlichte er 1935 sein Buch „Tragische Existenz“, eine der ersten katholischen Auseinandersetzungen mit Martin Heideggers „Sein und Zeit“, einem vielbeachteten Werk, das 1927 erschienen war.
1931 ging Delp zurück nach Vorarlberg und wurde Erzieher im Jesuitenkolleg Stella Matutina, Feldkirch. Dort fiel er durch seine unkonventionellen Erziehungsmethoden auf: Bewährung statt Bewahrung, Eigenverantwortung und Vertrauen statt lückenloser Aufsicht. Er wollte „streng, aber weitherzig“ sein, erklärte er seiner Mutter. „Bullus“, „Stier“, war sein Spitzname unter den Schülern, weil er oft mit verschränkten Armen und vorgeschobenem Kinn dastand. Doch er konnte auch ausgelassen sein und vor allem herzlich lachen.
Augustin Rösch, sein späterer Provinzial, war damals sein Vorgesetzter. Mit ihm, einem ehemaligen Offizier aus dem 1. Weltkrieg, kam es wegen der unterschiedlichen Erziehungsstile zu Spannungen. Doch wusste der Ältere, der kein Intellektueller wie Delp war, auch, was er an diesem begabten jüngeren Mitbruder hatte.
Delp hat schon sehr früh die Gefahr gesehen, die von den Nationalsozialisten drohte. 1930 schrieb er seinem Bruder: Wenn „bestimmte Richtungen die Mehrheit bekommen, sind wir die ersten, die ans Messer kommen“. Die deutsche Abteilung des Kollegs in Feldkirch wurde Anfang 1934 nach St. Blasien im Südschwarzwald verlegt. Einige Monate später wechselte Delp ins Theologiestudium nach Valkenburg in Holland, kurz hinter der Grenze bei Aachen, und siedelte 1936 ins neue Studienhaus St. Georgen in Frankfurt um. Er setzt sich in dieser Phase sehr grundsätzlich mit der Ideologie der „Hakenkreuzler“ auseinander. Er sieht und schätzt durchaus die Sehnsüchte, die hinter der neuen Heilslehre stecken, doch lehnt er die Nazi-Ideologie als Ersatzreligion radikal ab. Der Theologiestudent liest wie ein Besessener. Für die Semesterferien 1935 hatte er aus der Münchner Staatsbibliothek 200 Bücher ausgeliehen! Schrittweise entwickelte er sich in der Folgezeit von der kritisch-abwartenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hin zum zwar äußerlich verdeckten, aber innerlich klaren, grundsätzlichen Widerstand.
Am 24. Juni 1937 wurde er in St. Michael, München, zum Priester geweiht. Vergeblich versuchte er 1939, – nachdem er bereits den päpstlichen Dr. phil. erworben hatte – an der Philosophischen Fakultät der LMU die Zulassung zur Promotion zu erhalten. Jesuiten galten den Nationalsozialisten als staatsgefährdende Elemente. So kam er als Redaktionsmitglied zu den „Stimmen der Zeit“, die damals in der Veterinärstraße ihren Sitz hatten. Dort beschäftigen ihn die „soziale Frage“ und existentielle Grundfragen des Menschseins. In seinen Essays leistete er listig Widerstand gegen den Zeitgeist. Er predigte in St. Michael und hielt Vorträge in ganz Deutschland, betreute eine Jugendgruppe aus dem Bund Neudeutschland und arbeitete an zwei Buchprojekten. Eine Veröffentlichung war jedoch nicht mehr möglich. Sein Antrag zur Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer – ohne formell Mitglied zu werden – wurde abgelehnt. Über einen nicht so scharf kontrollierten Verleger in Colmar konnte eines seiner Bücher dann doch veröffentlicht werden.
Im Sommer 1941 mussten die „Stimmen“ ihr Erscheinen einstellen. Delp fand als Kirchenrektor von St. Georg in Bogenhausen im dortigen Pfarrhaus eine Bleibe. Er hatte viel Zeit, Einkehrtage zu halten und zu Tagungen und Vorträgen in ganz Deutschland zu reisen. Er engagierte sich in der deutschlandweiten Männerseelsorge und prägte mit seiner intellektuellen Brillanz deren Zentralstelle in Fulda. Außerdem arbeitete er an einem Buch über eine neue Wirtschafts- und Staatsverfassung unter dem Stichwort „Personaler Sozialismus“, einem Entwurf, der die Schattenseiten sowohl von Kapitalismus wie Kommunismus zu vermeiden suchte. Sein Anliegen: Weltgestaltung aus christlichem Glauben – doch keine katholische Sonderwelt, keine reine Innerlichkeit, sondern solidarische Gesellschaft in christlichem Geist!
In seinen Texten redet er mit Vorliebe vom „Herrgott“. Er betont damit bewusst – ganz in Anlehnung an die alttestamentliche Tradition – die Majestät eines nicht manipulierbaren, freien Weltschöpfers und Herrn der Geschichte; im Gegensatz zu einer Bürgerreligion, die sich immer wieder den bestehenden Verhältnissen anpasst und den lieben Gott einen guten Mann sein lässt. Seine These: Der moderne Mensch sei „gottunfähig“ und er werde erst wieder offen für das Religiöse, wenn er nicht mehr in menschenunwürdigen Verhältnissen leben müsse.
„Wir sind wieder Missionsland geworden“, stellt er im Herbst 1941 lapidar in einer aufsehenerregenden Rede fest. Die Kirche sei verbürgerlicht, bürokratisch geworden, kapsele sich in sich selbst ein und misstraue den schöpferischen neuen Ansätzen. Sie sei eine „Kirche der Selbstgenügsamkeit“, „der beziehungslosen Oasenhaftigkeit“ geworden. „Man soll deshalb keine großen Reformreden halten …, sondern sich an die Bildung der christlichen Personalität begeben und zugleich sich rüsten, der ungeheuren Not des Menschen helfend und heilend zu begegnen…“ (Strom, S. 47-49). Delp skizziert das Bild einer dienenden, verstehenden Kirche, der es nicht primär um konfessionelle Sonderrechte und rein religiöse Belange, sondern um die „Verteidigung des Menschen als Menschen“ gehe (ebda. S. 51).
Delp wirkte in Bogenhausen als begnadeter Prediger und Seelsorger, aber auch als zupackender Helfer. Er grub nach Luftangriffen 1942mit seinen Helfern verschüttete Menschen aus den Trümmern heraus. Ende April 1944 verwandelten britische Bomber die Stadt München in ein Flammenmeer. Delp predigte von zerbombten Häusern und zerstörten Menschenleben. Er versuchte immer wieder, die Verantwortung des Christen für die Welt und die Beheimatung im Ewigen zusammenzubringen. Gott als tragende Mitte des verlorenen Menschen, das war sein großes Thema. Immer virtuoser beherrschte er die Kunst, verbotene Wahrheiten verklausuliert, für die Gestapo getarnt, aber für wache Zuhörer direkt und offen anzusprechen.
Er unterstützte und versteckte auch verfolgte Juden. Er beschaffte Geld und Lebensmittelkarten für sie, brachte sie in oberbayerischen Jugendheimen unter oder erkundete abenteuerliche Fluchtwege. Für ihn war klar: Die Kirche hat jeder „bedrohten Kreatur“ beizustehen, denn in ihr verbirgt sich „das Antlitz Gottes“!
Kreisauer Kreis
Ab Frühjahr 1942 arbeitete Delp im „Kreisauer Kreis“ mit. In dieser Gruppe um den Grafen Helmuth James von Moltke wurden Modelle für einen Neuaufbau Deutschlands nach dem Kriegsende entwickelt: Achtung der Menschenwürde, Wiederherstellung der Rechtssicherheit, Anerkennung der Freiheitsrechte des Einzelnen, föderaler Aufbau, Selbstverwaltung, Verstaatlichung der Großindustrie, europäischer Staatenbund, Verhinderung totalitärer Herrschaft, Kontrolle staatlicher Macht, Mitbestimmung – das waren die Grundideen. Gewerkschaftler, Ordensleute, evangelische Pastoren, adelige Grundbesitzer und Sozialdemokraten, Offiziere, Juristen und Finanzexperten gehörten zu diesem Kreis. Es war eine „Große Koalition“ der unterschiedlichsten Lager im Sinne eines christlichen Sozialismus. Moltke, der bald mit Delp freundschaftlich verbunden war, hatte sich an den Provinzial Rösch gewandt, weil er „einen Soziologen (suchte), mit dem er vor allem die Arbeiterfrage und die Frage der Verchristlichung der deutschen Arbeiterschaft besprechen könne“ (Strom, S. 62).
Der Kreisauer Kreis hat die Neuordnung Westdeutschlands nach dem Krieg mitgeprägt, doch der damalige radikale Erneuerungswille hat sich nicht durchgesetzt. Das Ahlener Programm der CDU von 1947 kommt den Ideen der Kreisauer noch am nächsten. Natürlich waren deren Visionen plakativ, zum Teil von Sozialromantik und konservativ-elitärem Denken geprägt. Der Linkskatholik Walter Dirks konnte in Delp nur einen weltfremden Idealisten sehen. Auch sein jesuitischer Mitbruder Oswald von Nell-Breuning meint, Delp habe „die Grenzen seiner Sachverständigkeit überschätzt“ (Strom, S. 73.77). Von seiner Ausbildung her konnte Delp natürlich nur die philosophischen Fundamente für eine Neuordnung umreißen und schöpferische Impulse geben. Seine Grundideen eines „personalen Sozialismus“, eines „theonomen Humanismus“, seiner sog. „Dritten Idee“ zwischen schrankenlosem Liberalismus und totalitärer faschistischer oder kommunistischer Steuerung geben jedoch heute wieder Stoff zum Nachdenken.
Die letzten Monate von Delps Leben werde ich in den beiden späteren Abschnitten des Referats unter dem Titel „Der Mystiker“ und „Der Märtyrer“ skizzieren.
Der Philosoph
Den zweiten Hauptteil meiner Ausführungen unter dem Titel „Der Philosoph“ muss ich aus Zeitgründen sehr kurz halten. Manches wurde auch schon angerissen und wird im nächsten Teil noch vertieft werden.
1935 erschien Delps Buch „Tragische Existenz“, eine Auseinandersetzung mit Heideggers „Sein und Zeit“, einem allseits besprochenen Meisterwerk. Delp erkennt an, dass hier die Philosophie nicht mehr wie im Gefolge Kants vom subjektiven Bewusstsein ausgeht, sondern endlich wieder nach dem Ganzen der Wirklichkeit, nach dem „Sinn von Sein“ fragt. Doch kritisiert er sehr grundsätzlich: „Sein ist“ – nach Heidegger – „zeitlich-geschichtliches Werden, das mit dem Tode jäh abstürzt und somit in keiner Weise über sich selbst hinausragt.“ Sein ist wesentlich endlich-innerweltlich. Heidegger bleibt seiner Ansicht nach in der Horizontalen stecken, denn der Mensch ist ein „ins Dasein Geworfener“, er ist dem Todesgeschick ausgesetzt und besetzt von der Angst, im Nichts aufzugehen. Er kann seine brüchige Existenz nur bewältigen, wenn er entschlossen sich selbst verwirklicht. Diese „Heroizität des Nichts“ ist nach Delp im Letzten eine „Leugnung der Endlichkeit, die man vorher mit so viel Pathos herausgestellt hat“. Doch es ist das „Wesen des Endlichen, dass es bedingt ist, dass es auf anderes verweist.“ (Schriften, Bd. II, S. 137) Nach dem „Woher“ und „Wohin“ des Endlichen wird, so wendet er ein, überhaupt nicht gefragt. Heideggers Hauptwerk habe jedoch den Anspruch, „Weltanschauung“ zu sein. Im Grund ist es „der Mythos des modernen Menschen“. Dieser redet „ohne scheu zu werden, von der ‚Geworfenheit‘ der Welt“, sieht aber keinen Anlass, „einmal nach dem Werfer Ausschau zu halten.“ (Schriften, Bd. II, S. 133) Heideggers Konzept ist nach Delp eine „Theologie ohne Theos“.
Zu einer letztlich sinnlosen Existenz zu ermutigen, sei tragisch, weil hoffnungslos. Der Mensch müsse über sich hinausgehen, er sei auf eine Mitte, auf Gott hin angelegt. Der Verlust der Gottesbeziehung führe auch folgerichtig zum Verlust der Humanität. Delp sieht die Tragik seiner Zeit darin, dass sie „den Menschen nicht findet, weil sie Gott nicht sucht, und dass sie Gott nicht sucht, weil sie keine Menschen hat“ (Schriften, Bd. II, S. 143).
Das Buch Delps ist heute fast vergessen. Ihm wird vorgehalten, er habe Heideggers Gedanken zu einseitig als Weltanschauung missverstanden, wo es dem Autor doch nur um die Seinsfrage und damit um einen methodischen Atheismus gegangen sei. Doch liegt Delp mit seiner Intuition richtig, wenn er Heideggers Daseinsanalyse in eine innere Beziehung mit dem braunen Zeitgeist und dessen Pathos von Macht- und Vernichtungsphantasien setzt. Der tiefere Grund für die Misere der Moderne liegt für Delp im „Verlust der Mitte“. Auch Heideggers Philosophie sei vom „Zeitgefühl einer innerlich bangen und verfallenden Welt geführt“. Der „Ausblick zur Mitte bleibt verhüllt“, stellt er nüchtern fest. (Schriften, Bd. II, S. 146)
Delp schreibt mit geradezu prophetischem Pathos im Hinblick auf das, was 10 Jahre später, 1945, Realität war: „Das letzte Bild des Lebens kann nicht ein Totenfeld sein, darüber Raben krächzen: auch wenn es zeugt vom tapferen Kampf der Streiter. Einmal muss die Sonne des Lebens wieder darüber stehen und die Raben verscheuchen und die Toten aufrufen zu neuem Marsch.“ (Schriften, Bd. II, S. 121f) Wohlgemerkt: Das sind Sätze eines 28jährigen, über die man nur staunen kann!
Neben der grundlegenden Frage des Menschen nach sich selbst beschäftigte ihn vor allem das Thema „Geschichte“. Schon sein Menschenbild vom starken Individuum, das nur seinem Gewissen folgt und sich in Freiheit nur dem „Herrgott“ unterordnet, war ein pointierter Gegenentwurf zum braunen Zeitgeist. Ein Gleiches gilt für seine Geschichtsphilosophie. Delp stellt zunächst nüchtern fest, dass kein Mensch aus der Geschichte aussteigen kann. Er ist eingebunden in Landschaft, Sippe, Volk. Damit greift er das Vokabular der damaligen Zeit auf: „Das Blut trägt uns die lebendige Verbundenheit und die ererbte Gleichartigkeit der Ahnen zu.“ (Strom, S. 39) Doch sei der Mensch weder dem Erbe noch dem Gang der Geschichte restlos ausgeliefert. Er könne Geschichte gestalten, die Welt verändern. Der Mensch müsse immer seine Freiheit wagen, er könne sie nicht abgeben. Damit würde er sich selbst zum bloßen Objekt machen.
Die Geschichte ist oft zum Verzweifeln, brutal und zerstörerisch. Doch ist sie immer auch ein Appell, zu unterscheiden und zu handeln. Die Freiheit ist eine unausweichliche Herausforderung, manchmal eine Last, zugleich aber als Selbstvollzug des Menschen sein höchstes Glück.
In dieser Perspektive verbindet Delp Profangeschichte und Heilsgeschichte. Also keine „Zwei-Reiche-Lehre“, hier der banale Lauf der Welt und – davon abgehoben – dort das Reich Gottes als Bereich der weltjenseitigen Seele. Gott würde dann irgendwo über den Wolken schweben und ab und zu gütig oder zornig einschreiten. Doch Gott greift nicht direkt in den Ablauf der Geschichte ein, er ist als Erst- und Zielursache ihr tragender Grund. Er handelt in und durch Menschen. Der Mensch ist nach Delp „Repräsentant des schöpferischen Gottes“. Und „Gelegenheit zum ‚Reich Gottes‘ bleibt die Geschichte immer.“ Selbst an Tiefpunkten der Geschichte könne der Mensch Zeugnis geben für das Reich der Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit. Allerdings sei der Mensch nicht immer einer, der Geschichte macht und gestaltet, er muss sie auch oft schmerzlich erleiden.
In Delps Sicht der Geschichte verschränken sich individuelle Lebensgeschichte, gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung, politische Historie und Heilsgeschichte. Der schweigend anwesende Gott ist nie Teil der Geschichte, kann vom Menschen nie „gemacht“ oder vereinnahmt werden. Delp folgt hier der Grundintuition des jüdischen Gottesbegriffs: Der Gott Israels ist und bleibt jenseitig, kein irdisches Abbild kann und darf ihn fassen – und gerade als solcher ist er immer und überall präsent, und zwar mit seinem „Namen“, seiner Zusage „Ich bin mit euch“ – durch alle Wechselfälle der Geschichte. Diese eigentümliche Simultaneität von Präsenz und Entzug, von unbedingter Zusage und unverfügbarem Abstand zeichnet die Gottesvorstellung der Bibel aus.
Der Mystiker
Am 28. Juli 1944 wurde Delp nach der Frühmesse in St. Georg, Bogenhausen, verhaftet. Seine Teilnahme am Kreisauer Kreis war nach dem gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli aufgeflogen. Da er Anfang Juni 1944 zu einem Blitzbesuch bei Stauffenberg in Bamberg war, geriet er in den Verdacht der Mitwisserschaft. Er war jedoch nicht in die Attentatspläne eingeweiht und hätte sie auch nicht gebilligt. Deshalb sah er auch keinen Grund unterzutauchen.
Nach zehn Tagen wurde er von München nach Berlin ins Gestapo-Gefängnis Lehrterstraße überstellt. Dort durchlebte er die schlimmste Zeit von Folter und Erniedrigung, und das ausgerechnet am 15. August, dem Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel – jenem Tag, an dem er nach einem schmerzlichen Aufschub endlich seine Letzten Gelübde hätte ablegen können. Delp gestand in einem Brief vom 16. Dezember an seine Sekretärin Luise Oestreicher, er sei „in manchen Stunden nur mehr ein blutiges Wimmern“ gewesen. Im Januar 45 schrieb er: „Wenn ich an die Nacht in der Lehrterstraße (Gestapozentrale) denke, in der ich Gott um den Tod gebeten habe, weil ich diese Ohnmacht nicht mehr ertragen konnte, dieser Wucht und Wut mich nicht mehr gewachsen fühlte. Wie ich die ganze Nacht mit dem Herrgott gerungen und einfach meine Not ihm hingeweint habe. Und erst gegen Morgen strömte die große Ruhe in mich ein, eine beglückende Empfindung von Wärme und Licht und Kraft zugleich, begleitet von der Erkenntnis: du musst es durchstehen – und gesegnet durch die Zuversicht: du wirst es durchstehen.“ (Veni sancte spiritus, Bd IV, S. 277f.)
Am 27. September wurde er dann in das Gefängnis Berlin-Tegel verlegt, das von regulären Beamten geführt wurde. Er lebte in einer winzigen Zelle „drei Schritte vor, drei Schritte zurück“, das elektrische Licht brannte Tag und Nacht, die Hände in Eisen und gefesselt. Er konnte Besuche empfangen und Kassiber, verbotene Texte und Briefe, in seiner Schmutzwäsche hinausschmuggeln lassen. Am 8. Dezember, am Fest der ohne Erbsünde empfangenen Mutter Jesu, konnte er im Gefängnis endlich vor seinem Freund und Mitbruder Franz von Tattenbach SJ seine Letzten Gelübde ablegen, was ihn innerlich sehr stärkte. Es wurde ihm übrigens die Freilassung für den Fall angeboten, dass er aus dem Orden austreten würde.
Delp und die weiteren Kreisauer warteten lange auf ihren Prozess, der am 8. und am 10. Januar 1945 stattfand. Er wurde von Roland Freisler, dem Präsidenten des Volksgerichtshofs, einem ehemaligen Sowjet-Kommissar, der sich zum fanatischen Hitler-Anhänger gewandelt hatte, übel beschimpft, u.a. als „Ratte“, die man austreten müsse. Am 11. Januar um 16.00 Uhr wurde das Todesurteil verkündet. Moltke und weitere Kreisauer wurden am 23. Januar hingerichtet. Delp, erst am 31. Januar nach Plötzensee überführt, wurde dort am 2. Februar, an Mariä Lichtmess, erhängt.
In den verbleibenden 20 Tagen quälenden Wartens in Tegel schrieb er weiterhin viele Briefe und geistliche Meditationen. Seine Betrachtungen zur Pfingstsequenz „Veni, sancte spiritus“ (Bd. IV, S. 263 – 305) konnte er nicht mehr zu Ende führen. Er musste kurz vor dem Schluss abbrechen. Vorher hatte er sich das Vaterunser (Bd. IV, S. 225 - 241; Zitate ebendort) vorgenommen und schon während der Adventszeit und zu Weihnachten bewegende Betrachtungen geschrieben. – Konzentrieren wir uns auf seine beiden letzten Texte, die ich anhand der Vaterunser-Bitten als sein geistliches Vermächtnis skizzieren möchte. Sie weisen ihn m.E. als Mystiker des 20. Jahrhunderts aus, sprich als Menschen, der die Wahrheit des Glaubens in außergewöhnlicher Weise erfahren und ins Wort gebracht hat.
Nach dem Todesurteil bestand kaum Hoffnung auf ein erfolgreiches Gnadengesuch, das er jedoch einreichte. Auch das „Wunder“ einer Gefängnisstrafe oder gar eines Freispruchs war ausgeblieben. In der ersten Ungewissheit über sein weiteres Geschick gestand er noch am Abend der Verurteilung in einem Brief an seinen Mitbruder Franz von Tattenbach: „Ich bin Gott gegenüber wirklich in einiger Verlegenheit und muss mir darüber klar werden.“ Im Gebet des Herrn und in der Pfingstsequenz fand er zunehmend zu innerer Klarheit und Festigkeit.
In einer Vorbemerkung zum Vaterunser stellt er fest, er sei nun „auf dieser absoluten Höhe des Daseins“ angekommen. „Ich sitze da oben auf meiner Klippe und warte, ob und bis einer kommt und mich hinabstößt.“ Dort oben „verlieren viele bisher geläufige Worte ihren Sinn und ihren Wert“. Alles äußere Geschehen „liegt so weit unten“ und hört sich an „wie das ferne Tosen und Toben eines eingeengten Stroms“. „Zu den Worten, die hier oben ihre Gültigkeit behalten und ihren Sinn neu enthüllen, gehören … vor allem die Gebetsworte, die der Herr uns gelehrt hat.“
„Es klingt eigenartig in dieser Lage, das Vaterwort“, schreibt er im ersten Satz seiner Meditation. „Das Welterlebnis der letzten Zeit war ein Erlebnis des Hasses, der Feindschaft, der Rache, des Vernichtungswillens, der Eitelkeit und Anmaßung, der von sich selbst berauschten Macht und Herrlichkeit. Es wäre schlimm, wenn das … die letzte Offenbarung der Wirklichkeit wäre.“ Er gesteht, auch, „in dem hässlichen und hassvollen Raum“, wo Freisler ihn übel niederbrüllte, sei „das Vaterwort“ dauernd bei ihm gewesen. Diese „großtuerische Welt“ sei zum „kulissenhaften Vordergrund“ degradiert. Gott als Vater habe sich ihm als „Mitte des Seins“ sowie als „Erbarmen und führende Väterlichkeit“ geoffenbart. Das sei der „Grundzug des Lebens“. Damals dauernd beschworene Schlagwörter wie „Schicksal, Verhängnis, ewiges Volk“ verklingen in seiner Höhe wie nichts, sie erweisen sich als „Wahnbilder des hilflosen Menschen“. „Dem Glaubenden geschieht die Väterlichkeit, das Erbarmen, die bergende Kraft in tausend stillen Aussichtslosigkeiten und Preisgegebenheiten. Gott hat Wege zum Menschen in alle Verlassenheiten hinein.“
Auch bei der Pfingstsequenz betont Delp immer wieder, dass der flehentliche Ruf des „Veni sancte spiritus“, jener „Bogen“ sei, „der geschlagen wird von der kreatürlichen Not zur göttlichen Fülle“. Durch den vertrauensvollen Bittruf begegne die Kreatur ihrem Schöpfer. Schließlich verheiße der Herr den Armen die Seligkeit, weil sie, ob materiell arm oder reich, um ihre fundamentale Verwiesenheit auf den Vatergott wissen.
Beim zweiten Gebetswort „Vater unser“ kommt er auf seine Isolationshaft zu sprechen. Gerade jetzt, nach dem Todesurteil, sehne er sich nach dem Kontakt mit seinen todgeweihten Freunden. Er erfährt die gewaltsame Einsamkeit als „eines der schrecklichsten Mittel der Gewalt“. Da betet er „Vater unser“. „Plötzlich sind die Entfernungen überwunden. … Der Mensch weiß sich im Bund und Bündnis mit allen, die anbeten, glauben und lieben. Die gemeinsame Mitte, der personale Gott, der uns anspricht und den wir anrufen, macht den Menschen zum Menschen und die Gemeinschaft zur Gemeinschaft.“ Mit solchen Sätzen artikuliert Delp seine Grundauffassung vom Menschen, der nur wahrhaft Mensch ist durch seine Beziehung zum Absoluten.
Diese Sicht vertieft er beim Stichwort „im Himmel“. „Nur der jenseitige Mensch“ ist für ihn wahrhaft Mensch. Die „Jenseitigkeit des Daseins“ sei in seiner Zeit „fast ganz vergessen“. Deshalb sei der Herrgott gezwungen, der Menschheit so „ungeheuer hart“ die „Vorläufigkeit und Unbeständigkeit des Daseins“ vor Augen zu führen. Nur der „Entschluss über uns selbst hinaus“ führe zu den „Grundordnungen und Grundahnungen des Menschen“, zur „Ehrfurcht, zur dienenden Liebe, zum offenen Gehorsam“, also zur wachen Wahrnehmung der Stimme Gottes in unserem Innern. Delp umkreist mit dieser Ausrichtung auf den Dialog mit Gott den – wie er es nennt – „wirklichen Lebensraum“ des Menschen: „Hier lernt der Mensch die Grundwerte seines Lebens: Anbetung, Ehrfurcht, Liebe, Vertrauen.“
Diese Beziehung mit dem jenseitigen Gott darf jedoch nicht nur „Ideal“ bleiben, sie muss vom Dialog in die Begegnung mit Gott münden und zu einer Lebenshaltung werden. „Wer Gott erfährt, ist im Himmel“, schreibt er. Der Weg zu Gott verlange jedoch ein Aufbrechen und im Tod letztlich ein Zerbrechen unseres Daseins. „Glück, Seligkeit, Himmel“, was wir ersehnen und „Tod und Zerbrechen“, wovor uns bange ist, bündelt sich für Delp in der Anbetung. Davon müssten die heutigen Menschen wieder erfüllt sein und wissen: Die Erfahrung Gottes und damit der Himmel ist unsere wahre Heimat.
„Geheiligt werde Dein Name!“ Diese lobpreisende Anrufung ist für Delp die „Bitte um das rechte Ideal …, um die echte Mitte“. Denn der Mensch sei „auf eine Mitte hin …, auf Heiliges hin geschaffen“. Die „selbstgesetzte Mitte“ führt in einen „mörderischen Dialog“ mit „Forderung, Zwang, Macht, Vernichtung“. Es bedürfe der Ehrerbietung, der Ehrfurcht vor dem Namen Gottes, weil das große Heilige „schweigsame Stille“ und „demütige Verhaltenheit“ fordert. Das ganze Leben soll sich „unter das Gesetz der Heiligung stellen“. Er diagnostiziert sehr nüchtern: „Wir haben so viel Frömmigkeit ohne echt vollzogene Ehrfurcht vor Gott.“ Ohne diese Ehrfurcht gerate der Mensch „in die grausame Namenlosigkeit und Nummeriertheit“ – so wie er als Gefangener nur als Nummer zählt. Es würden dann in der Gesellschaft nur „Klischee, Etikette, Uniform, Schlagwort und Masse“ gelten. Je mehr wir die „Bedürftigkeit der Welt …, die Ausplünderung der Kreatur … erfahren und begreifen …, bekommt das Wort seinen Sinn: nur der Beter wird’s vollbringen: weil wir“ – so in der Meditation über die Sequenz als Anklang an das berühmte Sonett von Reinhold Schneider – „uns erheben als Menschen höherer Würde und Wertigkeit…“ (Bd. IV, S. 304)
„Dein Reich komme!“ Zu dieser Bitte stellt Delp lapidar fest: „Der Mensch allein schafft es nicht. Er erfährt sich immer wieder in die Grenzen, das Ungenügen des Kreatürlichen verwiesen“ … „Dass der Mensch … der überirdischen Macht und Kraft, ja selbst des lebendigen Gottes teilhaftig wird: das ist der Sinn des Gebetes um das Reich Gottes. … Dass der Mensch in Gottes Gnade sei und die Welt in Gottes Ordnung: das ist das Reich Gottes.“ Dies „geschieht in Menschen und von und unter Menschen“ Es sei zwar eine „stille Gnade“, aber dränge doch „zu Wort und Tat“.
Diese Gnade der Begegnung mit dem dezent und frei wartenden Gott stößt nach Delp beim Menschen auf zwei Hindernisse: 1) Auf ein urpersönliches: Es braucht „die wache und willige Offenheit zu Gott hin“, was Bekehrung und Selbstbescheidung verlangt. Nur „in der Sphäre und Atmosphäre personaler Intimität“ kann sich dann „wie bei einer echten Liebesbegegnung“ zwischen zwei Menschen das Leben im Geist ereignen und entfalten. (Pfingstsequenz, Bd. IV, S. 303) 2) Das zweite Hindernis betrifft den Menschen als Gemeinschaftswesen: Damit Menschen neu zum Glauben finden, sei eine revolutionär neue Sozialordnung nötig, „die es ermöglicht, menschengemäß und somit gottoffen und somit gottesbereit zu leben. … Diese Bitte will Großes von Gott, ja letztlich ihn selbst.“ Die Bitte um das Kommen des Reiches entlasse den Menschen in eine große Verantwortung. „Von deren Übernahme und Erfüllung hängt es ab, ob es sich wirklich um ein Gebet oder nur um frommes Gerede handelt.“
Die Bitte „Dein Wille geschehe …“ ist für Delp „die Bitte des Menschen um seine Freiheit“. Denn: „Der Mensch ist ein verwiesenes Wesen. … schon innerweltlich: durch Beziehungen und Bindungen.“ Jeder Versuch zur Autarkie ist „Selbsttäuschung, Selbstverblendung, Selbstmord“. „Dies gilt endgültiger und indiskutabler für die transzendentalen Beziehungen des Menschen.“ Und dann ein typisch Delp‘scher Satz: „Gott gehört in die Definition des Menschen, und zwar sowohl der deus a quo wie der deus ad quem et sub quo.“ Die Bindung an Gott binde den Menschen zweifach: „als Einfügung in die naturhaften Gegebenheiten … und als freie Begegnung mit dem fordernden und verpflichtenden Gesetz. … Darüber hinaus ruft Gott den Menschen in den heiligen Raum der persönlichen Fügungen, Berufungen, Schickungen und Sendungen.“ In den „dunklen Wegen, den nächtlichen Sendungen“ sowie den „überhellen Aussagen“ zeige sich der verborgene Gott in seiner „Übergroße“. „Nur in diesen Bejahungen gelingt der Mensch und wird er frei. Sonst bleibt er ewig ein Sklave seiner Angst und der Dinge, die er festhalten möchte.“ Und wieder ein typischer Satz: „Der Mensch muss sich hinter sich lassen, wenn er zu sich selbst kommen will.“ Die Seligkeit dieser freien Hingabe fühle sich an „wie im Himmel“. Der Mensch werde hineingenommen in die „Selbstbejahung Gottes“, in den „Jubel der Dreifaltigkeit“. Der Mensch im Heiligen Geist erfahre das Heil, er nehme teil an Gottes strömendem Leben: „… er segnet und wird gesegnet“. So in der Meditation zur Pfingstsequenz. (Bd. IV, S. 283)
Die Brotbitte sollte man nach Delps Auslegung „ruhig als Brotbitte stehen lassen“, doch sollte man diese Bitte um das reale Brot zugleich ausdeuten nach dem Herrenwort: „Meine Speise ist es, den Willen des Vaters zu tun“ (Joh 4,34). Auf dieser Interpretationslinie könne man sie auch auf das eucharistische Brot beziehen. Doch primär gehe es um das alltägliche materielle Brot, wobei Brotsorge – im Hungerwinter 1944/45 geschrieben! – und Brotbitte zusammengehörten. Sonst verlöre sich der Mensch im Raum des rein Irdischen. „Die Dinge müssen durchsichtig bleiben bis in die letzten Zusammenhänge.“ Zum menschlichen Leben gehören nach Delp die existentielle „Ungeborgenheit und Gefährdung“. Mit der Beschwichtigung der Angst durch die modernen Versicherungen entgehe der Mensch nicht der Konfrontation mit dieser Grundtatsache. Delps abschließender berühmter Satz rückt diese Bitte in die richtige Perspektive: „Brot ist wichtig, die Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.“
Beim Thema Schuld konstatiert er: Schuld „gehört zum Menschen wie das tägliche Brot“ sowohl als persönliche Fehlleistung und Haftung wie auch als Gesamthaftung für die Fehlhaltungen einer bestimmten Epoche. Wir versagen und wir lassen geschehen, was in einer bestimmten Zeit geschieht. Diese doppelte Schuld muss überwunden werden.
Gewöhnlich läuft der Mensch vor der Schuld davon, indem er sie verleugnet oder wegdiskutiert; doch kann er ihr nicht entrinnen. Sie ist eine „dauernde Seinsverstümmelung und Wirklichkeitsverkümmerung“, eine „erworbene Untugend“. Zum Heilwerden genügt die eigene Kraft nicht. Und dann wieder Delps Grundeinsicht: „Nur durch Gott kommt der Mensch ganz und wirklich zu sich selbst.“ Durch alle Erschütterung hindurch muss der Mensch sein verwundetes Leben dem heilenden Lebensstrom Gottes hinhalten und übergeben. (Pfingstsequenz, Bd. IV, S. 284f.) Aus eigener Kraft allein kann die Kreatur nicht zu Heilung und Heil finden. Dabei lehrt uns die Vergebungsbitte: Nur durch das dem anderen Menschen gewährte Erbarmen kann uns das Erbarmen Gottes zuteilwerden. Innerweltliche und transzendentale Schuld bedingen sich gegenseitig. Daraus zieht Delp den Schluss: Auf alle Bitterkeit und Erbitterung gegen Menschen verzichten, die an uns schuldig wurden. Delp bekennt, er sei auch „Freisler nicht böse“. Er wie andere vom Bösen besessene Menschen täten ihm „nur unsagbar leid“.
Delps Erfahrung während der stockdüsteren Stunden seiner Haft führte ihn zur Einsicht, dass wir die Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden, „ernsthaft beten“ sollten. Nicht irgendwelche kleine Versuchungen sind hier gemeint, sondern die „Zerreißprobe“, welcher „der Mensch in der Anfechtung ausgesetzt ist“. In schönen Tagen übergehen oder vergessen wir diese Bitte. Sehr eindrücklich beschreibt er (bei der Auslegung der Pfingstsequenz) seine Stunden der Schwäche, Not und Ohnmacht, des Zweifels und Nicht-mehr-weiter-Wissens und stellt nüchtern fest: „Nur in dieser Anfechtung lernt der Mensch sich selber kennen und ahnt, welche Entscheidungen von ihm erwartet werden.“ Die Anfechtung kommt von außen durch die Übergewalt der Umstände und sie kommt von innen als „Angst und schleichendes Gewürm, das jede Menschensubstanz auffrisst“.
Bei aller Hilflosigkeit heißt es noch dazu, den schweigenden Gott auszuhalten. „Die einzige Chance, diese Stunden zu bestehen, ist der Herrgott und dass man sich nicht freiwillig in sie begeben hat.“ Dass uns solche Stunden erspart bleiben, ist Sinn dieser Bitte. Doch liegt in diesen Stunden auch ein Segen: „Der Mensch muss auf alle Sicherheit verzichten und er wird der großen Ruhe und Überlegenheit des Herrgotts teilhaftig.“ Diese mystische Erfahrung hat ihn getragen, sodass er mit seinen gefesselten Händen schreiben kann: „Es gibt die Wunden der Not, aber es gibt auch die Wunder der Not.“ (Bd. IV, S. 293)
Bei der Schlussbitte um Erlösung vom Bösen geht es noch einmal um das Thema „Anfechtung“, um Anfechtung im Sinne einer Bedrängnis, „die das Heil infrage stellt“. Es geht letztlich um die Entscheidung für oder gegen Gott, die keinem Menschen erspart bleibt. Diese Art von Anfechtung verschiebt die innere Mitte und verdirbt die Perspektive jeglicher Wahrnehmung. In der Sprache der Pfingstsequenz landet der Mensch hier in der Verhärtung und Erstarrung seines Daseins. Nach Alfred Delp liegt darin „die Unfähigkeit der heutigen Menschen zur Anbetung, zur Ehrfurcht, zur Behutsamkeit“. Der gelungene Mensch ist der gelöste Mensch. Und der ist „ein Werk des Segens und der Gnade“. „Die Lösung aus der Verhärtung und Erstarrung ist eigentlich die Erlösung des Menschen.“ (Bd. IV, S. 297)
In dieser Bitte offenbart sich der agonale (von griech. ‚agon‘, ‚Kampf‘) Charakter unseres Lebens, wie er in den Versuchungsgeschichten Jesu grell aufscheint. Und Delp stellt fest: „Ja, es gibt nicht nur das Böse, es gibt den Bösen … als des Herrgotts zähen und elenden Widersacher.“ Deshalb ist immer wieder geistliche Unterscheidung notwendig mit der Frage: Was stellt sich zwischen mich und den Herrgott? Das können nicht nur die massiven Einbrüche des Bösen, sondern auch die schönen Dinge des Lebens sein, ja, vor allem wir selbst mit unserem selbstbezogenen Ego.
Delp stellt fest: Überall „wo die Dinge sich meinen, die Gewalt sich anbetet, das Leben sich kraft eigenen Rechts auf eigenem Wege ‚selbst verwirklichen‘ will, (wird) nicht nur die Sache, sondern die Widersache geführt“. „Dann muss der Mensch klar sehen: er muss behutsam und entschieden sein. Und er muss auf die Knie gehen und beten, beten. Das ist zehn Jahre lang zu wenig geschehen.“ Mit diesem persönlichen Eingeständnis und dem dringenden Appell zum Gebet beschließt Delp seine Vaterunser-Meditation.
Der Märtyrer
Nach dem Todesurteil, das am 11. Januar um 16.00 Uhr verkündet wurde, wirkt Delp fast erleichtert. Eugen Gerstenmaier, Mitangeklagter aus dem Kreisauer Kreis und nach dem Krieg langjähriger Präsident des Bonner Bundestages, kam mit einer Zuchthausstrafe von 7 Jahren davon. Er erinnert sich, Delp habe sich ihm nach der Verhandlung mit „offenem Lachen“ zugewandt und dazu bemerkt: „Also, Gerstenmaier, frisch gestorben!“ Todernster Galgenhumor. – im wahrsten Sinn des Wortes! „Das war kein Gericht, sondern eine Orgie des Hasses …“, schreibt er noch am selben Abend an seine beiden Unterstützerinnen Marianne Hapig und Marianne Pünder, jenen beiden Frauen, die ihn im Gefängnis versorgten und die Kassiber hinausschmuggelten.
Die Gründe für das Todesurteil liegen für ihn offen zutage. Zitat aus dem besagten Brief: „Gedanken an eine deutsche Zukunft nach einer möglichen Niederlage … Unvereinbarkeit von NS (Nationalsozialismus) und Christentum. Der Orden ist eine Gefahr und der Jesuit ein Schuft … wir sind grundsätzlich Feinde Deutschlands. Die katholische Lehre von der iustitia socialis als Grundlage für einen kommenden Sozialismus.“ „Der eigentliche Grund zur Verurteilung ist der, dass ich Jesuit bin und geblieben bin“, so schreibt er an jenem Tag an seine Mitbrüder.
Es folgen dann drei Wochen quälenden Wartens. Am 23. Januar werden seine Freunde hingerichtet. Er bleibt übrig und schreibt jeden Tag Briefe. Im letzten Brief an seine Sekretärin Luise Oestreicher vom 26. Januar gesteht er: „Diese Woche war die härteste und elendeste Zeit seit Juli. Der Tod der Freunde, besonders Helmuths, ist an sich schon bitter. Dazu das so nahe und grausame Erlebnis der Logik des Unheils, des Vernichtungswillens bis zuletzt. Und dann wieder dieses so eigenartige Übriggelassen-werden. Ich fühle mich dadurch neu verpflichtet, zu leben und zu hoffen. Obwohl es mir nie so schwergefallen ist wie diese Woche.“ Auf dem letzten Bestellzettel vom 30. Januar im Wäschepaket an die beiden Mariannes steht nur noch: „Beten und glauben. Danke.“ Er muss noch zwei Tage warten. Der katholische Gefängnispfarrer Buchholz hatte ihm wenige Tage zuvor nicht gerade einfühlsam eröffnet, wie genau das Sterben am Galgen vor sich geht. Er berichtete über Delps letzten Gang, er habe heiter gewirkt und einen einzigen Satz zu ihm gesagt: „Ach, Herr Pfarrer, in einer halben Stunde weiß ich mehr als Sie!“
Delps Asche wurde als letzte Demütigung auf den Berliner Rieselfeldern verstreut, wo man Gemüse mit mechanisch gereinigtem Abwasser anbaute. Gräber oder Reliquien der Widerstandskämpfer sollte es auf keinen Fall geben.
Rück- und Ausblick
Ich habe versucht, Ihnen einen Eindruck von einem faszinierenden Menschen und Jesuiten zu geben: Alfred Delp war ein hochbegabter Intellektueller, der um seine Überlegenheit wusste, eine kantige, mitreißende und inspirierende Persönlichkeit, ein gläubig-suchender Katholik, ein begnadeter Seelsorger und Prediger, gleichzeitig hilfsbereit und zupackend, manchmal auch im Blaumann. Er war angewiesen auf Freundschaft und intimen Austausch – mit ehemaligen Schülern, mit Männern in und außerhalb des Ordens. Seine Vertrautheit und freundschaftliche Nähe zu Mitarbeiterinnen und zu Frauen allgemein fallen besonders auf. Wie viele Jesuiten hatte er auch etwas Verschlossenes und Sprödes in seinem Wesen, hatte innere Blockaden und Grenzen – wie jeder Mensch. Ich hätte, wenn er überlebt hätte, den 60-, 70- oder 80-jährigen Delp im Orden noch kennengelernt. Was wäre aus ihm geworden? Wir wissen es nicht. Ich möchte am Schluss nur ein einziges Wort als sein bleibendes Vermächtnis herausgreifen.
Ich meine das vom ihm so häufig gebrauchte Wort „Herrgott“. Das ist für ihn mehr als die damals und bis heute im süddeutschen Raum gebräuchliche Rede von Gott. Für Delp liegt in diesem Wort die ganze Wucht des jüdischen „Ich bin der Herr, dein Gott!“ Er allein, nichts und niemand sonst! Am 1. Dezember schreibt er an die beiden Frauen, die ihn regelmäßig im Gefängnis besuchten: „Halten wir Ihm (dem Herrgott) halt weiter die gefesselten Hände als Anerkennung der inneren Bindung hin und setzen wir weiterhin die ganze Existenz auf ihn. Dass sich das ganze Leben so in ein Wort der Anbetung und Hingabe sammeln kann! Und auch des Vertrauens!“
Der Dreißigjährige notierte während seiner Großen Exerzitien: „Ich muss persönlich mit meinem Gott leben. Ich zu Du. … Freude haben an Gott. – Gottes Güte weiter tragen…Persönliche Nähe zu Christus, nicht dem Ideal, sondern der Person.“ Und zwei Zitate aus den Weihnachtsmeditationen, im Gefängnis geschrieben: „Unser Gottesbegriff muss wieder groß, markant und herrscherlich werden. Auch hart. Dann wird auch die Liebe, die wir verkünden, herb und kräftig und man kann ihr vertrauen.“ (Bd. IV, S. 206) Und weiter: „Lasst uns Gott wieder rühmen in Anbetung, Verkündigung und Jubel und wir werden wieder Worte zu sagen haben voll Gehalt und Wert, wir werden wieder Gesichte schauen und Geheimnisse wissen, und das Leben wird wieder nach der Entscheidung und Einsicht und Botschaft des Geistes fragen und nicht nur nach der größeren Wucht des größeren Triebes.“
Viele ältere Katholiken kennen noch den Gott der Verbote, der Angst, der peinlich zu erfüllenden Vorschriften, der bis zum Konzil weithin gepredigt wurde. In der Folgezeit wurde er abgelöst vom Gott der Liebe – GottseiDank! Dabei wurde jedoch die Liebe Gottes oft zu sehr banalisiert und damit ihrer dunklen, abgründigen Seiten beraubt. Gott wandelte sich zum netten Onkel, der alles versteht und verzeiht und ohne den man auch gut auskommen kann. Es braucht heute wieder neu den Gott, der ganz anders ist: erhaben, majestätisch, nicht zu fassen, jenen Herrgott, auf den wir als Geschöpfe dauernd verwiesen sind. Mit dem steigendem Krisenpegel unserer heutigen Welt treten unsere kreatürliche Begrenztheit und Ausgesetztheit immer mehr zutage. Da hilft nur eines: „Anbetung und Liebe, vertrauen, glauben und beten“ – Grundworte, die Alfred Delp uns gerade heute neu ans Herz legt.
— P. Karl Kern SJ
Literatur
Delp Alfred, Gesammelte Schriften, hrsg. Von Roman Bleistein, Bd. I-IV, Frankfurt 1983 (Schriften, Bd. I, II etc)
Bleistein, Roman, Alfred Delp, Geschichte eines Zeugen, Frankfurt 1989 (Zeuge)
Feldmann, Christian, Alfred Delp, Leben gegen den Strom, Regensburg 2023 (Strom)
Veranstaltungshinweis
Die HFPH wird ihrem Alumnus Alfred Delp SJ im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums 2025 gedenken. Der Gedenkakt findet am 02. Februar 2025 statt. Weitere Informationen finden Sie hier: hfph.de/delp