„Aber was genau sind implizite Einstellungen?“ Dr. Lieke Asma über ihre Forschung im Grenzbereich von Philosophie und Psychologie

Neben Professor*innen forschen und lehren an der Hochschule für Philosophie (HFPH) auch viele Nachwuchswissenschaftler*innen. Dr. Lieke Asma war in den vergangenen Jahren im Projekt „Motivational and Volitional Processes of Human Integration: Philosophical and Psychological Approaches to Human Flourishing“ unter der Leitung von Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ tätig. Seit Oktober 2021 leitet sie ein Projekt unter dem Titel „Implicit Bias: What Are We Missing?“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für drei Jahre gefördert wird.

„Implicit biases“ beschäftigen sich mit einer bestimmten Form menschlichen Verhaltens: Dieses Verhalten ist „implizit“, weil wir uns über die wahren Beweggründe für unser Verhalten nicht bewusst sind. „Voreingenommen“ ist unser Verhalten, weil es auf einer Stereotypisierung von anderen Menschen beruht, die diese in soziale Gruppen einordnet und damit bewertet. Wenn also ein/e Polizist*in eine Person nur deshalb für eine/n potenzielle/n Verbrecher*in hält, weil sie eine bestimmte Hautfarbe hat, aber behauptet, dass ein bestimmtes Handeln der anderen Person zu dieser Einschätzung geführt habe, dann kann es sich dabei um einen Fall eines „implicit bias“ handeln.


Wir haben mit Lieke Asma u.a. über ihre Forschung zu diesem spannenden Themenkomplex gesprochen.

 

Die Frage nach implizierter Voreingenommenheit, also nach „implicit biases“, wurde in den vergangenen Jahren stark und teils gesellschaftlich kontrovers, beispielsweise im Rahmen der Berichte zur „black lives matter“-Bewegung, diskutiert. Was macht solche Voreingenommenheiten so interessant?

Die meisten Menschen halten sich selbst nicht für rassistisch, sexistisch oder voreingenommen gegenüber Angehörigen bestimmter Gruppen und würden es vermeiden, sich voreingenommen zu verhalten. Wenn man sie fragt, würden sie sagen, dass Frauen und Männer die gleichen Chancen haben sollten und im Prinzip für bestimmte Berufe gleich gut geeignet sind. Sie würden behaupten, dass Menschen nicht beurteilt werden sollten, weil sie einer bestimmten ethnischen Gruppe angehören. Die Forschung zeigt jedoch, dass wir Menschen häufig aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe oder eines bestimmten Geschlechts beurteilen oder ungünstig behandeln. Ohne sich dessen bewusst zu sein und unabhängig von ihren ausdrücklichen egalitären Überzeugungen und Absichten neigen Personen zu impliziter Voreingenommenheit, indem sie z. B. den männlichen Kandidaten für das Amt des Polizeichefs ungeachtet der Qualitäten sowohl des männlichen Kandidaten als auch der weiblichen Kandidatin bevorzugen oder sich in einem Wartezimmer weiter von einer Person mit einer anderen Hautfarbe wegsetzen.

Eines der zentralen Ziele in diesem Forschungsbereich ist es, zu erklären, wie dies möglich ist. Wie kann es sein, dass wir uns entgegen unseren ausdrücklichen Überzeugungen und Absichten verhalten? Es muss etwas in uns vor sich gehen, außerhalb unseres Bewusstseins, das unser voreingenommenes Verhalten erklärt. Wir müssen implizite Einstellungen haben. Aber was genau sind diese Einstellungen? Assoziationen? Unbewusste Überzeugungen? Im Moment gibt es hier noch keinen abschließenden Forschungsstand. Darüber hinaus muss sich das Forschungsfeld damit abfinden, dass der Implicit Association Test (IAT), der früher eine zentrale Rolle in der Forschung über implizite Voreingenommenheit spielte und als ultimativer Beweis für die Existenz impliziter Voreingenommenheit galt, sich als weniger zuverlässig und valide erweist als einst angenommen.

 

Sie stellen in Ihrem Projekt pointiert die Frage danach, was wir bei „implicit biases“ übersehen. Können Sie Ihren Forschungsansatz für unsere Leser*innen kurz skizzieren?

Dieser Teil des Titels meines Projekts („What Are We Missing?“) hat eine doppelte Bedeutung.

(1) Unsere Vorurteile sind implizit. Manchmal behandeln wir Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ungünstig, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wenn wir uns so verhalten, haben wir tatsächlich etwas übersehen. Es ist jedoch nicht ganz klar, in welchem Sinne implizite Vorurteile implizit sind. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Menschen ihre Vorurteile vorhersagen können und nicht immer überrascht sind, wenn sie mit ihren Ergebnissen im IAT konfrontiert werden.

(2) Darüber hinaus – und hier kommt die zweite Bedeutung ins Spiel – liegt der Schwerpunkt in der Forschungsliteratur auf den impliziten Einstellungen und nicht auf dem implizit voreingenommenen Verhalten. Es wird davon ausgegangen, dass wir uns des inneren mentalen Zustands nicht bewusst sind, der unser implizit voreingenommenes Verhalten, die implizite Einstellung, angeblich verursacht. Dieser Ansatz hat die Debatte darüber angeheizt, was implizite Einstellungen genau sind. Ich denke, dass Wissenschaftler*innen bei dieser Herangehensweise an das Problem nicht berücksichtigen, dass das voreingenommene Verhalten selbst implizit ist. Darauf wird der Schwerpunkt meines Projekts liegen. Die Besonderheit der impliziten Voreingenommenheit besteht meiner Meinung nach darin, dass wir uns nicht bewusst rassistisch oder sexistisch äußern. Wir wählen bewusst eine Person für den Chef-Posten der Polizei aus, die wir für die beste halten, oder nehmen bewusst einen Platz im Wartezimmer ein, aber wir sind uns nicht bewusst, dass wir gleichzeitig etwas Sexistisches oder Rassistisches tun könnten. Die aktuelle Forschung über implizite Voreingenommenheit lässt also auch etwas vermissen: die Art des implizit voreingenommenen Verhaltens.

 

Ihre Forschung verbindet einen philosophischen mit einem psychologischen Ansatz. Was macht diese Verbindung von Philosophie und Psychologie für Ihren Forschungsbereich so spannend?

Eines der Hauptprobleme, die ich bei der psychologischen Forschung über implizite Voreingenommenheit sehe, ist, dass eine bestimmte, in gewissem Sinne dualistische Sichtweise von Handeln und Verhalten vorausgesetzt wird. Die Annahme, die auch in der Philosophie vorherrscht, ist, dass Handlungen körperliche Bewegungen sind, die durch bestimmte psychologische Zustände, z. B. Intentionen, verursacht werden. Dies scheint eine unschuldige Behauptung zu sein, aber das Ergebnis ist, dass körperliche Bewegungen als genau das angesehen werden, nämlich als Bewegungen, die der Körper ausführt, während die Bedeutung und die Intentionalität nur in einem psychologischen Zustand im Geist zu finden sind. Dieses Bild liegt auch der Argumentation rund um implizite Voreingenommenheit zugrunde: Rassismus und Sexismus sind irgendwo im Kopf zu finden, nicht in dem, was wir tun. Aber in Wirklichkeit ist die Voreingenommenheit, in der Art und Weise zu finden, wie wir uns ausdrücken. Natürlich sind in vielen Fällen wahrscheinlich mentale Prozesse für diese Verhaltensweisen verantwortlich, aber wenn man nur auf psychologische Zustände achtet, wird die Untersuchung der besonderen Natur von implizit voreingenommenem Verhalten verhindert. Die philosophische Erforschung der Natur des Handelns kann solche Annahmen aufdecken und kritisieren und unser Verständnis impliziter Voreingenommenheit fördern, indem sie neue Richtungen für die empirische Forschung aufzeigt.

Damit will ich jedoch nicht sagen, dass Psycholog*innen einfach darauf warten sollten, dass Philosoph*innen ihre konzeptionelle Analyse abschließen. Die empirische Forschung kann diese Analyse unterstützen, indem sie zum Beispiel zeigt, welche Interventionen dazu beitragen, implizit voreingenommenes Verhalten zu verringern. Sie liefert dabei Informationen über die Art der psychologischen Zustände, die im Allgemeinen für implizit voreingenommenes Verhalten verantwortlich sein könnten.

 

„Implicit Bias Trainings“ stellen Werkzeuge zur Anpassung automatisierter Denk- und Handlungsmuster bereit, um letztendlich diskriminierende Verhaltensweisen zu beseitigen. Gibt es Bereiche Ihrer Forschung, die in die Praxis von „Implicit Bias Trainings“ eingebacht werden sollten?

In diesem Bereich wird viel geforscht, und es ist derzeit schwierig, eine allgemeine Aussage darüber zu treffen, was funktioniert und was nicht. Einige Experimente deuten jedoch darauf hin, dass einzelne Maßnahmen nur für einen kurzen Zeitraum wirken und die Auswirkungen vom Kontext abhängen. In Anbetracht dessen vertreten einige Wissenschaftler*innen die Auffassung, dass Maßnahmen auf das Umfeld, in dem wir Entscheidungen treffen, ausgerichtet sein sollten, was meiner Meinung nach sehr sinnvoll ist und mit meinem Vorschlag im Einklang steht.

Meines Erachtens ergeben sich aus meiner Forschung zwei weitere Vorschläge:

(1) Wenn wir wissen wollen, ob wir implizit voreingenommen sind, sollten wir darauf achten, was wir unbewusst tun, wenn wir handeln und Entscheidungen treffen. Wenn ich mich für einen bestimmten Sitzplatz oder eine/n bestimmte/n Kandidat*in entscheide, tue ich dann gleichzeitig etwas anderes, ohne mir dessen bewusst zu sein? Ob und inwieweit dies hilfreich ist, müsste allerdings empirisch untersucht werden. Es könnte sein, dass sich die Aufmerksamkeit auf diese Eigenheiten des eigenen Handelns nachteilig auswirkt, zum Beispiel wenn man sich in bestimmten sozialen Gruppen unnatürlich verhält.

(2) Wir sollten uns bewusst machen, dass andere in der Regel besser in der Lage sind, unser unbewusstes Verhalten zu erkennen. Wir können zwar die Perspektive der dritten Person einnehmen, wenn es um unser eigenes Verhalten geht, aber für andere ist es im Allgemeinen einfacher, Muster in unserem Verhalten zu erkennen. Ein weiterer Vorschlag wäre also, anzuerkennen, dass wir es allein nicht schaffen. Um implizite Vorurteile abzubauen, sollten wir zusammenarbeiten.

 

Inwiefern sind wir alle Ihrer Meinung nach kollektiv für „implicit biases“ verantwortlich?

Aus meiner Sicht der impliziten Voreingenommenheit ergibt sich, dass wir zu einem erheblichen Teil kollektiv für implizite Voreingenommenheit verantwortlich sind. Implizite Voreingenommenheit ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ungünstig behandelt wird, ohne dass ihr dies bewusst ist. Mit anderen Worten, implizite Voreingenommenheit findet zuallererst in der Welt statt. Wir könnten uns sogar ein Beispiel ausdenken, in dem eine Person zur Benachteiligung von Mitgliedern einer bestimmten sozialen Gruppe beiträgt, obwohl sie keine voreingenommenen Gefühle, Gedanken oder Assoziationen hat, nicht einmal unbewusst. Wenn beispielsweise eine Person, die eine Sitzung leitet, den durchsetzungsfähigeren Männern das Wort überlässt, behandelt sie die Frauen in der Sitzung ungünstig, unabhängig davon, ob sie irgendwelche sexistischen Gefühle, Gedanken oder Assoziationen hat. Hinzu kommt, dass sich diese Person dessen per definitionem nicht bewusst ist und deshalb nur schwer erkennen kann, dass sie etwas tut, das möglicherweise nicht mit ihren ausdrücklichen Absichten und Überzeugungen übereinstimmt. Damit sie ihr Verhalten ändern kann, wäre es gelinde gesagt sehr hilfreich, wenn andere ihr helfen würden, die Verhaltensmuster zu erkennen, derer sie sich nicht bewusst ist. Wenn es um implizite Voreingenommenheit geht, haben wir also in der Tat eine kollektive Verantwortung – was natürlich nicht bedeutet, dass der Einzelne nicht die Verantwortung für sein implizites Verhalten übernehmen und sich bemühen sollte, über sein unbewusstes Verhalten nachzudenken.

 

Während der vergangenen Jahre haben Sie in einem Projekt von Godehard Brüntrup SJ zu philosophischen und psychologischen Zugängen zu menschlichen Motivations- und Willensprozessen geforscht. Was waren Ihre Forschungsergebnisse?

In diesem Projekt lag mein Hauptaugenmerk auf der Beziehung zwischen impliziten Motiven, absichtlichem Handeln und dem gelingenden Leben. Wie bei den meisten meiner Forschungsarbeiten ging ich von der Frage nach der Natur des Handelns als Ausgangspunkt aus. Der vorherrschenden Auffassung von intentionalem Handeln zufolge sind Handlungen körperliche Bewegungen, die durch bestimmte psychologische Zustände, z.B. Intentionen, verursacht werden. Dieses Bild wird auch in der psychologischen Forschung, oft implizit, übernommen. So geht man beispielsweise davon aus, dass implizite Motive psychologische Zustände sind, die tief in unserem Geist verborgen sind und unser Verhalten sozusagen von außerhalb unseres Bewusstseins beeinflussen. Dieser Ansatz ist jedoch problematisch. Zum einen werden psychologische Zustände den Akteuren lediglich aufgrund dessen zugeschrieben, was sie tatsächlich tun (und fühlen und denken). Wenn eine Person davon fantasiert, berühmt zu sein, versucht, andere von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen, und dazu neigt, wütend zu werden, wenn man ihr nicht zuhört, könnten wir sie z.B. als machtmotiviert betrachten. Wir haben jedoch keinen Grund zu behaupten, dass es in ihrem Kopf eine einzige Ursache gibt, die all dies hervorruft. Wir sollten uns auf die Art und Weise konzentrieren, in der das Motiv in dem tatsächlichen Verhalten der Person zum Ausdruck kommt, und darauf, aus welchen Gründen wir der Person ein implizites Motiv zuschreiben. Interessanterweise passt diese Ansicht, dass sich implizite Motive in Ausdrucksmustern widerspiegeln, besser zu den Ergebnissen der empirischen Forschung. In ähnlicher Weise habe ich in einer anderen Arbeit argumentiert, dass sich Tugenden in unserem Handeln widerspiegeln und nicht als innere psychologische Zustände aufgefasst werden sollten.

 

Inwiefern spielen die Erkenntnisse dieses Forschungsprojekts für Ihre jetzige Untersuchung eine Rolle?

Meine Forschung über implizite Voreingenommenheit baut stark auf dem vorherigen Projekt auf. Generell bin ich der Ansicht, dass unsere Aufmerksamkeit nicht sofort auf eine kausale Erklärung des Handelns gelenkt werden sollte – aber genau dies pflegen Psycholog*innen und Handlungstheoretiker*innen oft zu tun. Wir sollten auf keinen Fall versuchen, Phänomene wie Handeln und implizite Voreingenommenheit rein über ihre kausalen Ursachen zu definieren. Vielmehr sollten wir zunächst den Phänomenen selbst Aufmerksamkeit schenken. Was ist für eine Handlung charakteristisch? Und was ist für implizite Voreingenommenheit charakteristisch? Dies sind Fragen, die wir zunächst in den Vordergrund stellen sollten. Natürlich sind kausale Erklärungen interessant und es ist wichtig, sie zu untersuchen, aber bevor wir uns mit ihnen befassen, sollten wir uns zunächst ein klares Bild davon machen, was wir zu erklären versuchen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit sofort auf die kausale Erklärung lenken, entsteht die Gefahr, dass wir Antworten an der falschen Stelle suchen oder unbewusste Ursachen erfinden, um das Auftreten von etwas zu erklären, das wir in Wirklichkeit noch nicht ganz verstehen.

 

Was war bisher Ihre schönste Erfahrung an der HFPH?

Ich habe an der HFPH eine Menge toller Erfahrungen gemacht! Eine der besten war, dass ich nur eine Woche nach meinem Umzug nach München an einer Konferenz am Eibsee teilnehmen konnte – in der wunderschönen Landschaft des Wettersteingebirges. Außerdem habe ich in den letzten Jahren an der HFPH so viele freundliche und inspirierende Menschen kennengelernt. Ich habe viel von meinen Kolleg*innen und den Student*innen, die an meinen Seminaren teilgenommen haben, gelernt. Ich genieße die freundliche, offene und familiäre Atmosphäre an der Hochschule. Ich freue mich sehr auf weitere drei Jahre in München!

 

Zur Person: Dr. Lieke Asma studierte Kognitive Psychologie und Philosophie in Twente und Nijmegen in den Niederlanden. Sie erwarb Mastergrade in beiden Fächern bevor sie 2018 mit einer Arbeit zu philosophischen Grundfragen neurowissenschaftlicher Forschung zu Handlung und freiem Willen promoviert wurde. Von 2018 bis 2021 war sie Postdoctoral-Reseach-Fellow im Projekt „Motivational and Volitional Processes of Human Integration: Philosophical and Psychological Approaches to Human Flourishing“, das von Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ und Prof. Dr. Hugo M. Kehr (TUM) geleitet wurde. Seit 2021 leitet sie ein DFG-Projekt zu implizierter Voreingenommenheit an der HFPH.

 

Hinweis: Die Antworten von Dr. Lieke Asma wurden aus dem englischen Original übersetzt.