Der amerikanische Literaturwissenschaftler Eric Santner gehört zu den einflussreichsten Intellektuellen seiner Generation, da es ihm in zahlreichen Publikationen gelingt, die weltweit diagnostizierte Ausbreitung der Übermacht ökonomischer Existenzbedingungen mit Fragen ihrer uneingestandenen metaphysischen Erlösungsbedürftigkeit in Verbindung zu bringen. Psychoanalyse, politische Theologie und Marx’sche Warentheorie werden dabei von Santner in Kombination mit Foucaults und Agambens Machtanalysen systematisch verbunden.
Auf dem Symposion „Die Last allen Fleisches“, das eine zentrale Metapher und einen Grundbegriff von Santners Philosophie benennt, diskutieren Kultur- und LiteraturwissenschaftlerInnen mit Philosophinnen und Theologen die Relevanz und ideengeschichtliche Bedeutung dieser These für eine zeitgenössische Analyse gegenwärtiger Lebensverhältnisse. Santner entfaltet sie ideen- und begriffsgeschichtlich im Rückgang auf Autoren wie Luther, Marx, Freud, Lacan, Benjamin, Foucault, Agamben und Sebald, um nur einige zu nennen, aber speziell im Rekurs auf Ernst Kantorowicz’ Studie Die zwei Körper des Königs (1957). Von ihr aus widmen sich seine Publikationen im Rahmen einer Theorie der theologisch geprägten Ökonomisierung moderner Lebenswelten der These von der „translatio“ der ehemals sublimen Seite des Körpers des Königs in den modernen Volkskörper. Kantorowicz untersuchte, wie der Souverän im späten Mittelalter an der Grenze zur Neuzeit zwei Körper vereinte: einen sublimen, symbolischen Körper seines politisch-theologischen Mandats und den natürlich-sterblichen seines ordinären Menschseins. Im Souverän lebte demnach ein erhabener Körper, der im König mehr war als der König selbst. Als Stellvertreter eines „ganz Anderen“ im Diesseits garantierte er eine metaphysische Bindung des Volkskörpers an die Grundstrukturen des Seins. Das, was im König mehr war als er selbst, war durch ihn gebunden. Für die Subjekte des Königs wirkte dies entlastend, da die transzendente Macht in einer Person lokalisiert war. Ihnen war der Druck genommen, sich Gedanken über ihre eigene Stellvertretung im Diesseits zu machen.
Mit dem Abgang des Souveräns und der Übertragung seines Mandats auf das Volk als Souverän wird nun der erhabene Körper (der im König mehr war als er selbst) in alle Körper eingeschrieben. Nun erleidet das Volk, d.h. wir, diesen Druck des Normativen, den vorher – so Santner/Kantorowicz – allein der königliche Souverän für uns erlitten hatte. Aus theologischer Souveränität wird politische Theologie und schließlich politisch-theologische Ökonomie, deren Auswirkungen in der zeitgenössischen Soziologie untersucht werden.
In My Own Private Germany interpretiert Santner den schizophren gewordenen Sohn des Begründers der Schrebergarten-Bewegung als ein Subjekt unter modern-säkularen Bedingungen, das in der Unfähigkeit, ein symbolisches Mandat zu übernehmen, eine neue Zwangslage modernen Menschseins zum Ausdruck bringt. Schrebers Schicksal ist herausragend, weil an ihm die Kraft normativer Überfülle in symbolischen Investituren unter pseudo-säkularen Bedingungen deutlich wird. Schreber kam mit der spektralen Präsenz symbolischer Investitur als Senatspräsident am Oberlandesgericht Dresden nicht zurande und geriet innerpsychisch in einen Dauerzustand wahnsinniger Extase. Damit aber offenbart er zusammen mit Kafkas Figuren und Benjamins Analysen zur Kraft moderner Rechtsgewalt eine neue Ruhelosigkeit, die aufgrund einer sozial-ontologischen Spektralität politischer Transzendenz die Psyche in einen Konflikt mit der sublimen Seite ihrer Existenzbedingungen bringt: „[The] fundamental restlesness of unsettledness of the human mind [pertains] to the constitutive uncertainties that plague identity in a universe of symbolic values“ (Psychtheology, 50-51).
Mit anderen Worten: der moderne Volkskörper, dem Schreber als Funktionär für Fragen performativer Rechtssetzung angehörte, ist nicht weniger von Transzendenz geprägt als der seiner vormodernen Vorfahren, sondern mehr - und zwar weil das, was einst als Erhabenes im Königskörper gebunden war, sich neue Medien von Investituren aneignen muss: vom Status der Arbeit, über Berufungsfragen von Wissenschaft und Politik bis zu Fragen der Selbstdarstellung im Zeitalter transnationaler Medien.
Was Kafka als unüberschaubar bürokratischen Anrufungsapparat auslegt, der auf der Ebene politischer Macht nicht mehr homogen agiert, betrifft heute die Sozialstruktur untergebener Teilgruppen in den westlichen Gesellschaften zunehmender Singularitäten. Ein zeitgenössischer K. dürfte daher nicht mehr nur durch die enigmatischen Botschaften eines politischen Überbaus, der Geltung, aber keine Bedeutung hat, neurotisiert werden, sondern durch eine Vielzahl oftmals marktorientierter Appelle z.B. in der Pflicht man selbst, autonom und selbstverantwortlich zu sein. Wie Matthew Flisfeder zeigt, erfährt in diesem Zusammenhang die Rolle des nun dezentrierten großen Anderen eine Kompensation. Seine Rolle übernehmen, so Flisfeder, moderne Internetplattformen wie Instagram, Twitter und Facebook (Flisfeder 2021). In ihnen entfaltet sich Subjektivität in Strukturen marktorientierter und liberal-demokratischer Unterwerfung.
Mit dem Untergang der neuzeitlichen Souveränitätsmacht und ihrer Übersiedlung in die „volonté générale“ der Volksherrschaft geht also, so Santner, der erhabene Königskörper nicht einfach ideengeschichtlich verloren. Was im König mehr ist als er selbst, emaniert in das, was Santner begriffsbildend das „Fleisch“ des modernen Volkskörpers nennt. Die Metapher des Fleisches artikuliert den neuen ‚Aggregatszustand‘, die besondere Materialität des neuen symbolischen Herrschaftskörpers, der kein Ort in Zeit und Raum ist wie der Territorialkörper des modernen Nationalstaates. Vielmehr sind die sozialen und symbolischen Bindungen dieses politischen Körpers libidinös und affektiv verfasst und haben eine gewebeartig-unfassliche Struktur (‚flesh‘). Durch ihre Unförmigkeit bieten sie die perfekte Voraussetzung, um im Rahmen einer (spät-)modernen politischen Ökonomie immer wieder neu geformt zu werden, was eine besondere libidinöse Dynamik am Ort der Subjekte freizusetzen vermag.
Eine neue Rast- und Ruhelosigkeit treibt diesen Volkskörper daher um, was mit der Produktion von Phantasien zu tun hat, die den Stress der ungebundenen Transzendenz zu binden suchen. Die ersten und speziell in der Moderne des 20. Jahrhunderts auftauchenden Eigenschaften des genannten „flesh“ diagnostiziert Santner u.a. in den Werken Kafkas, Rilkes und Benjamins aber auch in Daniel Paul Schrebers Memoiren, die zusammen mit Freuds berühmter Schreber-Studie im Zentrum von Santners Buch My Own Private Germany (1996) stehen. Es markiert den Beginn einer geschichtsphilosophischen Genealogie, in der das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz unter modernen und zeitgenössischen Bedingungen näher bestimmt wird. Publikationen wie The Psychotheology of Everday Life (2001) und The Royal Remains (2011) erweitern die semantischen Rollen spekulativer Begriffe dieser Genealogie, die schließlich in Santners jüngsten Publikationen The Weight of All Flesh (2016) und Sovereignty Inc. (2019) ihre kulturphilosophischen Synthesen erfahren. Diese These Santners verbindet sich zudem mit einer Vielzahl von Forschungen der letzten Jahre in unterschiedlichen Bereichen der Geisteswissenschaften, in denen oftmals ein revidiertes Verständnis von Säkularisierung und dem oftmals zu früh verkündeten „Ende der Metaphysik“ diskutiert wurde.
Wie genau sind Santners Thesen auszulegen? Prägt die Gegenwart tatsächlich eine uneingestandene Erlösungsbedürftigkeit oder zumindest ‚Residuen‘ der Erlösungsbedürftigkeit, die – in Ermangelung einer klaren Form und Perspektive der Erlösung – durch rastlose Betriebsamkeit ausgetragen wird? Kehren neue Formen sublimer „Flesh“-Kulturen auf Internetplattformen wie Instagram und Meta zurück? Wäre eine Überwindung des Kapitalismus die notwendige Bedingung einer neuen Form der Freiheit bzw. Befreiung? Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposions sind eingeladen, Santners Lektüren der genannten Autoren kritisch-konstruktiv im Verhältnis zum Status von Erlösungsfragen der Gegenwart zu kommentieren und/oder zu erweitern, wie auch auf seine spekulativ-philosophischen Thesen zu Fragen zeitgenössischer Ökonomie-Theologie einzugehen. Dabei mögen Fragen der Ausbreitung von Formen der Selbstvermarktung ebenso eine Rolle spielen wie die Effekte eines neuen Corporate-Feudalismus, der längst überwunden geglaubte Gesellschaftsstrukturen wieder aufleben lässt.
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Donnerstag, 1. Juni 2023 (Aula)
18.00 KEYNOTE LECTURE I:
Eric Santner (Chicago)
Negative Anthropology in Freud, Rosenzweig, and Musil
Freitag, 2. Juni 2023 (Aula)
09.00 – 09.30 Begrüßung
09.30 – 10.30 Agata Bielik-Robson (Nottingham)
Exodus into Ordinary Life. Santner’s Judaism as the Religion of Desublimation
10.30 – 11.00 Kaffeepause
11.00 – 12.00 Robert Buch (Halle)
Metamorphoses of the Flesh. Creaturely Life and Undeadness in Döblin’s Berlin Alexanderplatz
12.00 – 13.00 Luca Di Blasi (Bern)
Die zwei Körper des Königs der Juden.
Über die Schuld der Politik und die Politik der Schuld
13.00 – 14.30 Mittagspause
14.30 – 15.30 Sami Khatib (Stuttgart)
The commodity’s two bodies: Santner with Marx
15.30 – 16.30 Rasmus Nagel (Heidelberg)
Die Trägheit allen Fleisches: Theopolitische Überlegungen zur protestantischen Universalisierung der Akedie
16.30 – 17.00 Kaffeepause
17.00 KEYNOTE LECTURE II:
Mladen Dolar (Ljubljana)
Too muchness, surplus of immanence, manatheism: On three concepts proposed by Eric Santner
19.00 gemeinsames Abendessen (für speaker)
Samstag, 3. Juni 2023 (Aula)
09.00 – 10.00 Ino Augsberg (Kiel)
The Flesh of all Words
10.00 – 11.00 Dominik Finkelde (München)
t.b.a.
11.00 – 11.30 Kaffeepause
11.30 – 12.30 Clemens Pornschlegel (München)
Spiderman’s body. Zur politischen Theologie von Superheroes
12.30 – 13.30 Daniel Weidner (Halle)
“Till death do us part”. The Political Theology of ‘Kulturkampf’
13.30 Abschluss
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Start: Donnerstag, 1. Juni 2023: Key Lecture von Eric Santner um 18h30 Uhr.
Ende: Samstag, 3. Juni gegen 13 Uhr.
Ort: Hochschule für Philosophie, München.
Key-Notes:
- Eric Santner (Chicago)
- Mladen Dolar (Ljubljana)
Mit Beiträgen von:
- Ino Augsberg (Kiel)
- Robert Buch (Halle)
- Agata Bielik-Robson (London)
- Luca di Blasi (Bern)
- Sami Khatib (Karlsruhe)
- Dominik Finkelde (München)
- Rebekka Klein (Bochum)
- Rasmus Nagel (Heidelberg)
- Clemens Pornschlegel (München)
- Daniel Weidner (Halle).
Organisation: Dominik Finkelde SJ (München) und Rebekka Klein (Bochum)
Kontakt: Dominik.finkelde@hfph.de