Eckhart heute
Meister Eckhart ist seit einigen Jahren wieder im Gespräch. Auch Sie sind hier, weil Sie sich für diesen Mann interessieren. Was macht den mittelalterlichen Dominikaner gerade heute so attraktiv?
Nach wie vor im Bewusstsein ist das weitverbreitete letzte Werk des 1980 verstorbenen Soziologen, Psychologen und Philosophen Erich Fromm. Es trägt den Titel „Haben oder Sein“, eine Formulierung, die einem Frühwerk Eckharts entnommen ist, den „Reden der Unterweisung“ (RdU). Fromm entwickelte eine vernichtende Kritik der Habens-Ethik, d.h. der Besitz- und Bedürfnisethik. Sie sei die große Illusion einer „irdischen Stadt des Fortschritts“. Dagegen setzte er eine neue Seins-Ethik. Als Motto diente ein Satz von Meister Eckhart: Die Menschen sollen nicht so viel nachdenken, was sie tun sollen, sie sollen vielmehr bedenken, was sie sind. (RdU 4)
Heute, in einer Zeit neuer, weder kirchlich noch religiös gebundener Sinnsuche, ist Eckhart als geistlicher Impulsgeber, als Meister der Meditation gefragt, aber auch als Gesprächspartner und Brückenbauer im interreligiösen Dialog. Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott: … Man soll vielmehr einen wesentlichen Gott haben … (RdU 6) Diese Offenheit über festgeprägte Religionssysteme hinaus scheint in eine Epoche individueller spiritueller Suche zu passen, in der sich jeder seine eigene Religion zusammenbastelt. Doch lauert dabei die Gefahr, Eckhart verkürzt wahrzunehmen und ihn lediglich für heutige Zeitströmungen zu vereinnahmen.
Deshalb möchte ich ihn zunächst aus seiner Zeit heraus vorstellen, um dann seine geistliche Lehre für heute zu skizzieren.
Die Zeit Meister Eckharts
Fragen wir zunächst: Was charakterisiert die Zeit, in der Eckhart lebte und wer war er eigentlich? Meister Eckhart wurde um das Jahr 1260 bei Gotha in Thüringen geboren. Er starb 1328, vermutlich in Avignon. Wahrscheinlich war er ein Sohn des Ritters Eckhart, genannt „von Hochheim“. Mit etwa 16 Jahren trat er in Erfurt in den Dominikanerorden ein.
Hier einige geschichtliche Entwicklungen, die diesen Zeitraum charakterisieren: Infolge von Bevölkerungswachstum, dem Anwachsen der Städte und der zunehmenden Geldwirtschaft war die frühmittelalterliche Ordnung ins Wanken geraten. Der landbesitzende Adel, die führende Kriegerkaste, besaß nicht mehr alle Privilegien. Das Bürgertum hatte sich etabliert und forderte seine Rechte. Die sozialen Spannungen wuchsen.
Auf der politischen Ebene war Ende des 12. Jahrhunderts der Versuch der Staufer gescheitert, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zur zentralen europäischen Macht aufzubauen. 1256 wurde der letzte Staufer hingerichtet. Im deutschen Sprachraum bauten die Habsburger von einer Randlage, von der Ostmark her, eine Hausmacht auf. Im 13. und 14. Jahrhundert stieg immer mehr das französische Königtum zur Vormacht in Europa auf.
Die hierarchische Kirche war in das bestehende Machtsystem integriert. Das Papsttum baute seine institutionelle Macht aus. Sie steigerte sich bis zum Weltherrschaftsanspruch durch Papst Bonifaz VIII. Doch die Ernüchterung folgte 1302. Bonifaz wurde vom französischen König gefangengesetzt und starb kurz danach. 1305 wurde ein Franzose als Clemens V. zum Papst gewählt und nicht in Rom, sondern in Lyon gekrönt. Vier Jahre später residieren die Päpste für über 70 Jahre in Avignon, abhängig von der französischen Krone.
Die politischen und sozialen Umwälzungen und der Ausbau des kirchlichen Machtsystems riefen unterschiedliche Reaktionen hervor. Frömmigkeitsgeschichtlich vollzieht sich ab dem Ende des 12. Jahrhunderts ein Wandel: Nicht mehr der allmächtige, alles ordnende Gott, der Weltenherrscher, steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch Jesus, das göttliche Kind in der Krippe, der Gottesknecht am Kreuz. Das Beispiel der Armut Jesu inspirierte eine mächtige Armutsbewegung. „Wenn Gott um unseretwillen arm geworden ist, dann müssen auch wir um seinetwillen arm werden“, so die zwingende Devise. Franz und Klara von Assisi sowie Dominikus, der Ordensvater Meister Eckharts, stehen für die innerkirchliche Variante dieser neuen Bewegung, doch große Gruppen waren der offiziellen Kirche entfremdet und hatten sich abgesetzt: die Katharer, die „Reinen“, von denen sich unser Wort „Ketzer“ herleitet, die Waldenser, die ohne Hierarchie in Armut gemeinsam das Evangelium leben wollten. Diese Bewegungen wurden blutig bekämpft. Ketzerkriege, Ketzerverbrennungen waren an der Tagesordnung.
Die Zeit Meister Eckharts ist die Zeit der Häresie als Volksbewegung. In diesem von der Hierarchie skeptisch beäugten Umfeld bewegten sich auch die verschiedenen freien Zusammenschlüsse von Frauen, „Büßerinnen“ oder Beginen genannt. Das Leben Eckharts spielte sich in diesem Spannungsfeld ab. Er wurde selbst Opfer dieser Spannungen.
(Fiktive) Selbstvorstellung
„Gestatten, Eckhart, mein Name. An den späteren Zusatz ‚Meister‘ hab ich mich nie so recht gewöhnt. Ich kenne nur einen wirklichen Meister. Um Ihn, um Christus, den Meister des Lebens, ging es mir ein Leben lang.
Geboren bin ich in Thüringen. Meine Eltern gehörten zum niedrigen Landadel. Sie merkten schon bald, dass ich ein vifes Bürschlein war und schickten mich auf die Klosterschule nach Erfurt. Dort wurde ich – ihr würdet heute sagen als ‚Hochbegabter‘ – sehr gefördert. Die Brüder des Predigerordens begeisterten mich: wie sie pädagogisches Geschick, einfachen Lebensstil und hohe Intellektualität verbanden. Ich entdeckte schon als Junge: Das wird mein Weg! Gleich nach der Schule trat ich bei den Dominikanern ein, sechzehn Jahre jung.
Nach dem Noviziat wechselte ich an den Rhein. Ich ging nach Köln an unser Generalstudium. Danach durfte ich an die erste Universität Europas wechseln, nach Paris. Nicht jeder hatte dieses Privileg. Auch dort hielt man große Stücke auf mich. Mit 33 Jahren hatte ich meinen ersten Lehrauftrag.
1294 musste ich überraschenderweise nach Thüringen zurück. Ich wurde Prior, Ordensoberer des Erfurter Konvents, meines Mutterklosters. Gleichzeitig hatte ich das Amt des Vikars, des Bevollmächtigten, von ganz Thüringen inne. Es war eine aufreibende Zeit, Haus- und Regionaloberer in einem zu sein. Als Hausoberer hatte ich mit Mitte dreißig die Verantwortung für das Erfurter Predigerkloster, als Stellvertreter des Provinzials musste ich viel herumreisen und die Klöster der Region visitieren. Reisen, das war zu unserer Zeit noch etwas anderes als heute, wo ihr mit Auto, ICE oder Flugzeug unterwegs seid.
Als gefahrvoll Reisender war ich nicht nur in Klöstern, also im Innendienst tätig. Ich predigte auch öffentlich in verschiedenen Kirchen und kümmerte mich seelsorgerlich um geistliche Gemeinschaften von entschiedenen Christen. Aus dieser Tätigkeit für Ordensleute und Laien sind übrigens die ‚Reden der Unterweisung‘ erwachsen. Ab 1300 war ich nur noch als Vikar. In Thüringen unterwegs. Die Reisetätigkeit nahm nun noch mehr Raum ein.
1302, also mit 42 Jahren, wurde ich als Professor nach Paris gerufen. Für Nicht-Franzosen gab es dort einen theologischen Lehrstuhl. Ich hatte bedeutende Vorgänger wie Thomas von Aquin und Albertus Magnus. Ich kniete mich in die wissenschaftliche Arbeit hinein, schrieb einige lateinische Kommentare zur Heiligen Schrift, bekam aber auch den ganzen Trubel zwischen dem französischen König und dem Papst mit.
Nach einem Jahr ging’s wieder über den Rhein zurück. Die eine deutsche Provinz, die ‚Teutonia‘, wurde geteilt und ich wurde zum Provinzial des nördlichen Teils, der ‚Saxonia‘, gewählt. Über 7 Jahre war ich für ein Gebiet von den Niederlanden bis nach Polen zuständig. Außerdem war ich im Auftrag unserer Ordenszentrale für drei Jahre auch noch der bevollmächtigte Vikar für Böhmen.
1311 dann wieder nach Paris an die die Sorbonne. Dass ich zweimal diesen begehrten Lehrauftrag erhielt, ehrte mich. Das war zuvor nur bei Thomas geschehen. Ich war wissenschaftlich sehr produktiv, wollte aber auch die Seelsorge nicht lassen. Viele engagierte Christen, Frauen und Männer, suchten den Kontakt zu mir. Was mich sehr nachdenklich machte, war das System der Überwachung und Verdächtigung von allen, die das Christentum in einem neuen und freien Geist leben wollten. Ich bezeichnete das intern als Ketzerhysterie.
1313 wurde ich an den Oberrhein geschickt. Unser Orden war mit der geistlichen Betreuung von Frauengemeinschaften betraut worden. Zwischen Straßburg und Zürich gab es 65 solcher Gemeinschaften. In dieser Dichte war das sonst nirgends auf dem katholisch geprägten Erdkreis zu finden. Unsere Ordensleitung wusste, dass mir die Entwicklung einer neuen Art des Zusammenlebens nach dem Evangelium sehr am Herzen lag. Deshalb machten sie mich, einen Theologen und Seelsorger, zu ihrem ‚Spiritualen‘, zum geistlichen Begleiter dieser Vereinigungen.
Für die Habsburgerin Agnes, die Königin von Ungarn, die sich nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes und der Ermordung ihres Vaters einer solchen Gemeinschaft angeschlossen hatte, schrieb ich das ‚Buch der göttlichen Tröstung‘. Ich predigte öffentlich. Ich versuchte, so etwas wie eine theologisch fundierte Laienspiritualität zu entwickeln. Ich spürte, wie produktiv die deutsche Sprache war, um geistliche Erfahrung auszudrücken. Latein war als Wissenschaftssprache doch arg standardisiert. Als Prediger in der Muttersprache konnte ich mich dem inneren Fluss der Gedanken überlassen und manches auch sehr provokativ zuspitzen. Außerdem traf ich auf viele geistlich interessierte Menschen, Männer wie Frauen, die kein Latein konnten. Ich wurde ein begehrter und verehrter Kanzelredner und Impulsgeber. Das brachte mir allerdings auch Anfeindungen ein. Ich wurde angeschwärzt. So befreiend meine Impulse auf viele wirkten, manchen Klerikern, manch strammem Bischof war ich suspekt. Überall witterten sie Häresie und den Aufstand des Volkes. Oftmals stand auch einfach Neid dahinter. Sie sahen, wie ihnen die Schäflein davonliefen und – das sei nebenbei bemerkt – dass diese Schäflein ihr Geld nicht mehr zu ihnen trugen. Geheime Dossiers wurden über mich angelegt.
Der Boden im Südwesten wurde allmählich zu heiß. Meine Ordensoberen schickten mich deshalb an meinen alten Studienort nach Köln. Vorlesungen zu halten, war ich gewohnt. Gleichzeitig predigte ich öffentlich und wieder strömten die Leute. Die geheimen Dossiers aus Straßburg waren inzwischen auch nach Köln gelangt. Der Bischof und Teile des Klerus wurden hellhörig und waren alarmiert. Doch den Ausschlag gab, dass zwei meiner dominikanischen Mitbrüder mich verleumdeten. Kurzum: Ich wurde der Häresie bezichtigt, in einem ordensinternen Verfahren zwar freigesprochen, doch die offizielle Anklage beim Bischof blieb bestehen.
Ich habe dann eine generelle Absage an jegliche Irrlehre geleistet, so sie in meinen Schriften zu finden sein sollte. Denn von der Wahrheit der katholischen Lehre war ich felsenfest überzeugt. Der ganze Wirrwarr konnte nur aus Unkenntnis und Missgunst erwachsen. Getroffen hat mich das schon. Ich, ein alter Mann, der ein Leben lang der Kirche gedient hatte und auch jetzt für die Wahrheit eintrat, sollte ein Häretiker sein! Die höchste Instanz der Kirche musste deshalb entscheiden. Ich wollte mich vor dem Papst selber verteidigen. So machte ich mich auf den Weg nach Avignon. Dort hat mich der Tod ereilt oder sagen wir besser: Von dort aus durfte ich in die Ewigkeit eintreten. Es war das Jahr 1328. – Ich kann mit 68 Jahren dankbar auf ein Leben voller Arbeit, aber vor allem voller Gnade zurückblicken.“
Eckhart, eine vielfach begabte Persönlichkeit
Dieser Überblick über Eckharts Leben hinterlässt den Eindruck eines Ausnahmemenschen. Eckhart war ein Intellektueller von hohem Grad. Dass er zweimal die begehrte Professur an der Sorbonne bekam, sagt schon alles über diesen Meisterdenker, der in den Bahnen des damals modernen Neuplatonismus die christliche Botschaft auslegte. Johannes Tauler, der seinen Ordensbruder aus der Straßburger Zeit kannte und eine Generation nach ihm am Oberrhein wirkte, skizziert einmal die Predigtweise und Theologie Eckharts (Predigt Nr. 15): Sie erhebe sich nicht vom Kreatürlichen zum Göttlichen hin, sondern sie spreche aus der Gewissheit der ewigen Wahrheit. Ersteres wäre aristotelisch gedacht, Letzteres platonisch. Manche Hörer jedoch, so meinte Tauler, verstünden Eckharts faszinierende Redeweise nicht, weil sie die Worte nur aus ihrer irdischen Vorstellungswelt heraus interpretierten und nicht als Worte, die vom Ewigen her in die Zeit sprächen.
Eckhart hat neben seinen provozierenden deutschen Predigten und seinen deutsch geschriebenen Traktaten auch ein großes lateinisches Werk mit Schriftkommentaren hinterlassen, das wir aus Zeitgründen außer Acht lassen müssen.
Außerdem war er innerhalb seines Ordens eine hochgeachtete Führungspersönlichkeit. Sonst hätte man ihm nicht so oft wichtige Ämter anvertraut, die gute Menschenkenntnis, Organisationsgabe und nicht zuletzt – man denke nur an die vielen Reisen – eine stabile körperliche Konstitution verlangten.
In erster Linie war Eckart jedoch ein gewinnender und begnadeter Seelsorger, der aus tiefer geistlicher Erfahrung sprach und dabei die lateinische Wissenschaftssprache ins Deutsche transponierte. Zusammen mit Goethe war er der größte Wortschöpfer der deutschen Sprache. Er brachte Altvertrautes neu zum Klingen und eckte damit an, weil seine kühne, zum Nachdenken anregende Sprache ungewohnt war und eingespielte Klischees durchbrach.
Mystik
Wir werden uns heute Abend vor allem den „Reden der Unterweisung“ und Auszügen aus einigen seiner deutschen Predigten widmen, die hinter dem Meisterdenker den Mystiker erahnen lassen.
Das Wort „Mystik“ leitet sich her von griechisch „myein“, was wörtlich bedeutet „Mund und Augen schließen“, um innerlich das Geheimnis der Welt wahrzunehmen. Die Sprache der Mystik versucht etwas in Worte zu fassen, was alles Worthafte übersteigt. Das ist ihr grundlegendes Sprachproblem: eine Sprachnot, die sprachschöpferisch wirkt. Deshalb fühlen sich die Mystiker aller Zeiten dem „Ur-Mystiker“ Dionysius Areopagita verwandt, der sich Paulus nach seiner Rede auf dem Areopag (Apg 17, 34) mit wenigen anderen angeschlossen hatte. Er galt als Vater der „negativen“ Theologie, die besagt: Gott ist durch kein Wort, keinen Begriff zu erfassen. Alle irdischen Vorstellungen sind inadäquat.
Nehmen wir als Beispiel das auf Gott angewandte Adjektiv „gut“. Wir können es steigern zum Komparativ „besser“ und zum Superlativ „am besten“. Einer der Sätze Eckarts, der in der Anklageschrift gegen ihn stand, lautete: Gott ist weder gut noch besser noch vollkommen; wenn ich Gott gut nenne, so sage ich etwas ebenso Verkehrtes, als wenn ich das Weiße schwarz nennen würde. Hinter Eckharts zunächst verstörendem Satz steckt die schlichte Einsicht: Wenn wir das Adjektiv „gut“ im gewöhnlichen Sinn als noch steigerungsfähig Gott zuschreiben, dann wird es falsch. Wenn einem Menschen Schlimmes widerfährt, könnte er sagen: „Könnte der liebe Gott nicht etwas besser mit mir umgehen?“
Das Sprechen über Gott kann immer nur analog, „ähnlich“, sein. Unsere irdischen Begriffe können Gott nie „be-greifen“, also wie mit Händen fassen. Sie bleiben immer ungenügende Hinweise auf die unfassbare Wirklichkeit Gott. Das gilt auch für so zentrale Begriffe wie „gut“ oder Bilder wie „Vater“. Das 4. Laterankonzile hatte schon im Jahre 1215 festgestellt, dass die Unähnlichkeit unserer irdischen Bilder und Begriffe von Gott immer größer sei als die Ähnlichkeit. Überspitzt gesagt: All unsere Begriffe von Gott sind zu mehr als 50 Prozent falsch, weil deren Unähnlichkeit in Bezug auf Gott die Ähnlichkeit überwiegt. Diese grundlegende Einsicht treibt der oben zitierte Satz Eckharts auf die Spitze.
Mystik ist nach einer mittelalterlichen Definition „cognitio dei experimentalis“, eine „Erkenntnis Gottes aus Erfahrung“, also ein Widerfahrnis, bei dem ein Mensch die Gegenwart Gottes erfährt, davon durchdrungen wird und fest davon überzeugt ist, dass er Gott begegnet und nicht irgendeiner Illusion erlegen ist.
Wer eine solch außerordentliche Erfahrung in Worte fassen will, der muss ekstatisch und hochreflex zugleich reden: mit Paradoxien, Übertreibungen und Zuspitzungen. Die mystisch inspirierte Sprachnot nimmt in immer wechselnden Metaphern einen Anlauf nach dem anderen und kann das Unsagbare doch nur umkreisend andeuten. Mystische Sprache ist dennoch nicht vage und dunkel, sondern sie ist wie herausragende Lyrik von einer alle Grenzen sprengenden Erfahrung beseelt und damit rational und transrational zugleich. Da die Mystikerinnen und Mystiker gegen die Grenzen der Sprache anrennen und um ihre begrenzten sprachlichen Möglichkeiten wissen, verabschieden sich bestimmte mystische Strömungen auch total von der Sprache. „Der redet am treffendsten von Gott, der am tiefsten von ihm schweigt“, sagte schon Dionysius. Doch bleibt das Dilemma aller Mystiker, von etwas Unsagbarem reden zu müssen, von dem man nicht schweigen kann.
Eckharts Mystik
Ein genialer Schüler Eckharts, sein Mitbruder Heinrich Seuse, hat die Eckhartsche Mystik in eine prägnante Kurzformel gegossen. Sie lautet:
„Ein gelassener mensch
muss entbildet werden von der creatur,
gebildet werden mit Cristo
und überbildet in der gotheit.“
Es geht Eckhart um die Gelassenheit. Dieser Begriff ist das pulsierende Zentrum seiner Spiritualität. Ge-lassen-heit heißt: nicht fixiert, ledic sein in Bezug auf die irdischen Bilder, Begriffe, Vorprägungen, Wünsche und Gefühle. Letztlich heißt es, die immer begrenzte Ichperspektive hinter sich zu lassen. Der gelassene, freie Mensch entdeckt in Christus erst sein wahres Selbst. Er wird eine „neue Schöpfung“. Es vollzieht sich eine existentielle Transformation. Eckhart nennt das vor allem in seinen späteren Jahren Gottesgeburt. Dieses innere Neuwerden zieht den Menschen mit unwiderstehlichem Sog hinein ins Göttliche, „überbildet in der Gottheit“, sagt Seuse. „O Seele, suche dich in mir, o Seele, suche mich in dir“ – so wird Teresa von Avila im 16. Jahrhundert diese Suchbewegung der Mystik klassisch formulieren.
Der eckhartschen Mystik geht es um den Adel jedes Menschen, um die Vergöttlichung des Menschen nach dem Ur-Bild Christi. Diese schlichte, aber ungeheuerliche Wahrheit sprengt alles Irdische. Sie gibt dem Menschen, und zwar jedem, eine unermessliche Würde: Es ist etwas in der Seele, das unerschaffen und unerschaffbar ist; wenn die ganze Seele solcherart wäre, so wäre sie unerschaffen und unerschaffbar, – und dies ist die Vernunft. Das ist ein weiterer Satz Eckharts, der in der Anklageschrift gegen ihn stand.
Im Mittelalter hat man der Seele drei Grundkräfte, nämlich Verstand, Wille und Gedächtnis zugeschrieben, wobei „Gedächtnis“ viel weiter gefasst ist als die bewusste Erinnerung. Der Begriff meint im Mittelalter die Gesamtheit aller Vorstellungen, die im Menschen, ob bewusst oder unbewusst, gespeichert sind. Diese drei unterschiedlichen Seelenkräfte müssen, da sie jeweils den einen, unverwechselbaren Menschen ausmachen, in einem Einheitspunkt zusammenlaufen. In der obigen Formulierung aus der Anklageschrift wird dieser Einheitspunkt Vernunft genannt. Manchmal spricht Eckhart auch vom Fünklein oder von der Spitze der Seele oder vom innersten Bürglein. Immer meint er damit die unfassbare, geheimnisvolle Mitte jedes Menschen. Sie liegt als ewige Idee Gottes dem geschaffenen, irdisch begrenzten Menschen zugrunde und ist insofern unerschaffen und unerschaffbar. Eckhart denkt hier in den Grundvorstellungen platonischer Philosophie. Im Sinne der christlichen Offenbarung fließen die kosmische Christologie des Kolosserbriefes („In Ihm ist alles erschaffen im Himmel und auf Erden..“ Kol 1,16) und die Erwählungschristologie des Epheserbriefes („In ihm hat er uns erwählt vor Erschaffung der Welt…“ Eph 1,4) zusammen.
Fassen wir zusammen: Eckharts Mystik ist eine Lebenslehre. Sie lebt davon, dass der Mensch frei werde von sich selbst und von allen Dingen. Diese Freiheit erwächst aus der Haltung der Gelassenheit, die er oft auch Abgeschiedenheit oder geistliche Armut nennt. Den Menschen, der in dieser Gelassenheit, Abgeschiedenheit und Armut steht, nennt Eckhart überraschenderweise den Gerechten. Der gerecht handelnde Mensch ist eins mit Gott. „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“, sagt Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,48). Diese lebenspraktische Weisung verankert Meister Eckhart hochspekulativ im ewigen Wesen des Menschen als Geschöpf Gottes. Vollkommene Gerechtigkeit ist allerdings immer ein Geschenk der Gnade. Denn Gott nimmt uns jederzeit auch als Unvollkommene an, wenn wir uns ihm überlassen. Lass Gott in dir wirken, lautet die Grundweisung Meister Eckharts, und zwar wie oder wo oder in welcher Weise es ihm passt (RdU 23).
Dass Gott in uns wirken kann, hat eine Bedingung, die er immer wieder betont: Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du dich findest, da lass von dir ab; das ist das Allerbeste. (RdU 3) Oder noch kürzer: Nimm dich selber wahr und lass dich! Eckhart ermutigt, ohne jede Anhänglichkeit an das eigene Ego zu beten und sich ganz Gott zu überlassen: In wahrem Gehorsam darf kein ‚Ich will so oder so’ oder ‚dies oder das’ gefunden werden, sondern nur ein vollkommenes Aufgeben des Deinen. Und darum soll es im allerbesten Gebet, das der Mensch beten kann, weder ‚Gib mir diese Tugend oder diese Weise’ noch ‚Ja, Herr, gib mir dich oder ewiges Leben heißen, sondern nur ‚Herr, gib mir nichts, als was du willst, und tue, Herr, was und wie du willst in jeder Weise!’“ (RdU 2)
Dieses höchste Ziel steht ihm vor Augen. Bei allzu vielen konkreten Ratschlägen würde es aus dem Blick geraten, zumal den meisten Zuhörern Eckharts die üblichen praktischen Anweisungen zum Beten vertraut waren. Eckhart ist ein Mystiker, der, wie schon die Zeitgenossen bemerkten, mehr „aus der Ewigkeit“ denn „aus der Zeit“ redete und er ist mehr ein „Lebemeister“ denn ein „Lesemeister“. Es geht diesem Meisterdenker und Mystiker um eine Mystik des Alltags, um das praktisch und alltäglich gelebte Christsein.
„Unmittelbarkeit“ und „Gelassenheit“ als Ziel
Nehmen wir das Ziel des geistlichen Weges noch ein wenig genauer in den Blick. Eckhart will zum unmittelbaren Innewerden der göttlichen Gegenwart hinführen. Der Mensch kann sich für diese Gottesgeburt in ihm nur vorbereiten. Er kann sie nicht selber bewerkstelligen. Den Eigenwillen aufzugeben, sich in der Tugend zu üben, spielt für Eckhart eine viel wichtigere Rolle als das Erlernen einer bestimmten Gebetsmethode. Das besagte Innewerden ist niemals Resultat einer eigenen seelischen Aktivität. Eckhart lehrt eine Unmittelbarkeit, die nicht einmal auf eine besondere Erleuchtung angewiesen ist. Er kritisiert die Fixierung auf „enlightment“: „Wenn man gelegentlich sagt: Das ist ein erleuchteter Mensch, so ist das etwas Unbedeutendes.“ (Predigt 31).
Es geht Eckhart um eine wesenhafte Hinwendung zum Geheimnis Gottes. Er will den Menschen für eine unmittelbare Gottesbegegnung öffnen. Natürlich verlangt das läuternde Übungen, um für diese Begegnung disponiert zu sein. Das egozentrische Wollen hinter sich zu lassen, ist keine leichte Aufgabe. Letztlich versagen dabei alle Mittel einer aszetischen Praxis. Die Fixierung auf eine Methode ist nach Eckart ein Hindernis, weil sie etwas Kreatürliches ist und bleibt. Einzig notwendig ist: sich Gottes vorbehaltloser Zuwendung zu öffnen; und damit alles zu lassen, was Weise und Mittel ist. Das Haupthindernis ist das Ego, der ichfixierte Eigenwille des Menschen, die Un – gelassenheit. Alle geistlichen Übungen sollen ihm dazu verhelfen, seine unbewusste Ichhaftigkeit zu durchschauen und hinter sich zu lassen.
Das Neue bei Eckhart ist, dass er die Gottunmittelbarkeit nicht als Endpunkt einer inneren Entwicklung denkt. Er macht sie zum durchgängigen Prinzip des geistlichen Lebens. Das traditionelle Konzept des Reinigungs-, Erleuchtungs- und Einigungsweges (purgatio, illuminatio, unio) spielt bei ihm so gut wie keine Rolle. Denn die göttliche Gegenwart in allen Dingen schenkt sich dem Seelengrund in jedem Augenblick, unabhängig von persönlichen oder sozialen Vorbedingungen. Das bedeutet jedoch keinen billigen Automatismus. Und natürlich weiß Eckhart, wie notwendig eine anfängliche methodische Einübung ins Beten ist.
Suche Gott, nicht Trost
Eckhart behandelt das Beten vor allem unter dem Aspekt des gelassenen Umgangs mit Trost und Trostlosigkeit. Geistliches Erleben lebt von diesem Wechselspiel. Trosthafte, erfüllte Seelenzustände wechseln mit leidvollen und zermürbenden Phasen. Dieses Schwanken verbindet sich unwillkürlich mit der Überzeugung: Wenn es mir gut geht, bin ich von Gott angenommen und geliebt. Wenn es mir schlecht geht, bin ich von Gott verlassen.
Suche Gott, nicht Trost, lautet Eckharts Maxime. Unabhängig von unseren Gefühlen des Erhoben- oder Bedrücktseins finden wir Trost und Halt in Gott selbst. Wenn der Mensch sich Gott wirklich anvertraut, wird er von seiner Anhänglichkeit an tröstende Erlebnisse befreit. Die Versuchung, das Gebet für Wohlgefühl und süßes Empfinden zu verzwecken, wird gebannt. Denn die unbewusste Bindung an das Empfinden des Gemüts würde zum Haupthindernis für das Eigentliche, nämlich für die wesentliche Einigung mit Gott. Um es paradox zu formulieren: Nur wer Gott als fühlbares, vorstellbares Gegenüber lässt – in der Sprache Eckharts, wer aller bilder ledic wird, der findet Gott. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Eckhart zu Menschen spricht, die bereits jahrelang die Heilige Schrift meditiert und sich in die Gestalt Jesu betrachtend vertieft haben. Alle bildhaften Vorstellungen von vorneherein zu lassen, würde den Anfänger überfordern. Doch steht auch der schon „Geübte“ immer in der Gefahr, fühlbare Trosterlebnisse mit der Nähe Gottes zu identifizieren.
Ein solch absichtsloses Beten führt im Laufe der Zeit zu einem Habitus geistiger Wachheit, der ein unablässiges Gott-gegenwärtig-Innehaben ermöglicht, ohne dass dazu noch eine reflexe Aufmerksamkeit notwendig wäre. Diese habituelle Wachheit ist ein immerwährendes Tiefengebet, das durch keine peripheren Seelenbewegungen unterbrochen werden kann. Der geistlich geübte Mensch muss nichts tun, um zu beten, denn er betet – sei es mit oder ohne Worte – durch seinen abgeschiedenen Geist, in dem Gott selbst ane underlaz gegenwärtig ist. So paradox es klingt: Eckhart will zu einer Gottunmittelbarkeit führen, die allein in der Gelassenheit, Armut und Abgeschiedenheit des Seelengrundes wurzelt.
Einheit von Gebet und Handeln
Eckhart verbindet dabei Gebet und Handeln zu einer Einheit. Das explizite und bewusste Beten ist für ihn Ausfluss des unablässigen Tiefengebets. Gute Werke zu vollbringen ist Ausbruch jener wesenhaften Liebe, die beständig im Seelengrund verborgen liegt. Anders gesagt: Beschauliches Gebet und selbstlose Tugend wurzeln in der Abgeschiedenheit des Seelengrundes, worin sie beide von Gott selbst ihr Wesen und Wirken ohne Unterlass empfangen.
Eckhart kritisiert deshalb die Fixierung auf ein Gebetspensum, weil es das Beten zu einem Mittel für ichhafte Zwecke herabsetzt. Der Mensch soll nicht etwas mit dem Gebet erreichen wollen, sondern lernen, sich im Gebet ohne Warum, ohne eigenen Willen Gott zu überlassen. Im gleichen Maße, wie das Innere gesammelt ist, kann sich ein wahrhaft betender Mensch dem anderen Menschen in selbstloser Liebe sunder warumbe, ohne Warum, zuwenden. Nicht-verzwecktes Beten führt zu dem einzig Notwendigen, zur Haltung tätiger, selbstvergessener Liebe: Ich erachte es für weit besser, schreibt er, du ließest aus Liebe von der Verzückung (inzucke) ab und dientest dem Bedürftigen in größerer Liebe.
Die „Reden der Unterweisung“ für heute
Für eine Erneuerung der christlichen Spiritualität sind die Impulse Meister Eckharts äußerst hilfreich. Wir können sie auf die geistliche Not unserer Zeit zu beziehen, die Martin Buber kurz nach dem 2. Weltkrieg als »Gottesfinsternis« bezeichnet hat. Diesen Zustand der „Verdunstung“ des Glaubens in einer um sich greifenden säkularen Lebenseinstellung könnte man mit Karl Rahner auch als Phase einer geistlichen Reifung begreifen. „Der erklärte Atheismus der Theorie und der Praxis vieler wäre … dann nur die falsche, weil ungeduldige und vermessene Reaktion …, er wäre reaktionär im eigentlichen Sinn: er hielte am kindlicheren Erlebnis des nahen Gottes als Forderung und Bedingung anbetender Anerkennung fest, wenn jenes nicht mehr da ist, dann kann man mit Gott nichts mehr anfangen, dann gibt es ihn nicht.“
Was in der Gottesferne der westlichen Konsumgesellschaft zunichtewird, ist nach Rahner die kollektive Verobjektivierung des göttlichen Geheimnisses, also die Festlegung Gottes auf bestimmte Begriffe, Dogmen und Vorstellungen. Rahner hat in seiner Theologie Gott als unsagbares Geheimnis wieder neu in den Mittelpunkt gerückt. Vor diesem Geheimnis stehen im Grunde alle Religionen, Weltanschauungen und auch alle Agnostiker. Mit Eckhart gesprochen: Der gedachte Gott kann nie das Geheimnis des Lebens fassen. Der Mensch kann sich nur erfassen lassen von einem wesentlichen Gott, der unbegreiflich bleibt.
Im Sinne einer naiven Verobjektivierung und damit Vereinnahmung Gottes ist, wie Martin Buber sagte, die personale Ich-Du-Beziehung zu Gott in die „Katakomben“ gegangen. In der Glaubenskrise unserer Zeit kündigt sich vielleicht – wer weiß? – eine Zeit radikal neuer Unmittelbarkeit zu Gott an. „Gerechte“ Menschen, welche die spirituelle Not ihrer Zeit in dunklem Glauben angenommen haben wie zB Therese von Lisieux, wären dann Hoffnungszeichen einer neuen Epoche des Glaubens. Der allgemeine Zweifel an der Nähe Gottes sollte gläubige Menschen ermutigen, sich in geistlicher Armut Gott auszusetzen. Es wäre eine Versuchung, dieser Läuterung auszuweichen und nur nach neuen Methoden oder alten Gepflogenheiten zu greifen. Diese können nur einen vorläufigen Trost vermitteln.
Welche Impulse könnten uns die Weisungen Eckharts heute geben? Dazu einige zusammenfassende Thesen und eine Vorbemerkung: Wir müssen uns, das sei vorweg bemerkt, im Klaren sein, dass uns von der Zeit Meister Eckharts nicht nur 700 Jahre trennen, sondern dass wir heute mit einem ganz anderen Weltbild leben. Der metaphysische Rahmen des neuplatonischen Denkens ist spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts zerbrochen. Unser Selbst- und Weltgefühl ist gänzlich verschieden. Uns ist das sichere Bewusstsein entschwunden, dass unsere Zeit der Ewigkeit entspringt, dass ewige Ideen dem irdischen Sein zugrunde liegen. Von daher ist unser Suchen und Fragen nach Gott ein total anderes als im späten Mittelalter. Trotzdem stehen wir vor den gleichen Grundfragen des Lebens und können uns dabei von Meister Eckhart inspirieren lassen. Das führte mich zu den folgenden fünf Thesen:
- Ansatzpunkt einer heutigen Spiritualität ist die Weite und Offenheit des menschlichen Geistes. Spiritualität lebt vom Geist gelassener Innerlichkeit, von dem Mut und der Entschiedenheit, sich selbst nicht auszuweichen und sich dem Geheimnis der Welt zu überlassen. Feinde des Spirituellen sind die Zerstreuung, die Banalisierung und damit die Verflachung des Lebens. Mit der sichtbaren, fassbaren, realen Welt scheint alles abgetan. Das Leben verliert seine Tiefendimension, seine Erfüllung und seine unfassbare Freude. Es heißt heute neu, sich der Wirklichkeit in all ihren Dimensionen zu öffnen, vor allem der Sinnfrage. Ansatzpunkt dafür ist die Grundanlage des Menschen, über sich selbst im Vertrauen hinauszugehen, um zum eigenen wahren Selbst, zum anderen Menschen und zum Sinn der Welt zu finden.
- Ein spirituelles Leben verlangt, täglich einen eigenen, eingeübten Stil des Innehaltens, der schweigenden Offenheit und Wachheit zu pflegen! Spiritualität lässt etwas geschehen, wenn wir uns von innen her sammeln und öffnen. Der Eckhartsche Impuls Nimm dich selber wahr und (über)lass dich! erinnert uns: Wir können nicht an uns selbst vorbei Gott finden. Doch müssen wir den verborgenen Gott jeden Tag neu mit ganzem Herzen suchen und in wacher Bereitschaft leben, damit Gott uns antreffen und finden kann.
- Biblisch geprägte Spiritualität lebt vom Vertrauen auf einen „Gott-mit-uns“, der präsent ist, indem er immer neu auf uns zukommt und uns zuinnerst meint und anspricht. Dieser geheimnisvolle Gott, „in dem wir leben, uns bewegen und sind“, wartet auf unsere Antwort. Denn er ist ein Gott des personalen Dialogs, ein Gott der Liebe, der sich uns mitteilen und durch uns wirken will.
- Christliche Spiritualität ist Nachfolge Jesu, ist innerlich gepflegte Christusliebe, ist Maßnehmen an der intimen Gottesbeziehung Jesu, seinem restlosen Vertrauen auf seinen „Abba“, seiner Demut, seiner überragenden Geisteskraft sowie seiner Solidarität mit allen Menschen, besonders den armen, leidenden und einfachen Menschen. Wahre christliche Spiritualität sprengt alle religiösen Grenzen: Denn Jesus Christus, dieser ganz und gar gottbezogene Mensch, ist das Urbild und Zielbild jedes Menschen. Er ist der universale Mittler, der die Menschheit mit Gott verbindet. Er zeigt uns, dass wir wesenhaft zu Gott gehören, wenn wir mit ihm seinem „Abba“ vertrauen.
- Gelebte Spiritualität führt aus allen „gedachten“ Gottesvorstellungen heraus und über alle religiösen Grenzen hinweg. Sie zeigt sich als geistige Wachheit und Tiefengewissheit im Tun des Guten und Gerechten. Sie macht gelassen und frei. Sie vertraut auf die liebende Zuwendung Gottes als Quellgrund des Lebens. Wahre Spiritualität weiß um die Grenzen jeglichen religiösen Systems, aber sie weiß auch um die Notwendigkeit dieser sozialen Zeichensysteme, denn sie kanalisieren durch Erzählung, Kult und Ethik die Gottesbeziehung bestimmter Kulturen und Epochen. Doch sieht sich gelebte Spiritualität über die Zeiten hinweg nur Einem verpflichtet: der grenzenlosen Liebe, die Gott selbst ist.
Zum Ausklang
Eine praktikable Umsetzung des unablässigen Gebets, das Eckharts Weisungen sehr nahekommt, findet sich in der „Wolke des Nichtwissens“, einer anonymen Schrift aus dem England des 14. Jahrhunderts. Sie steht in der Tradition jener Mystik, die auch Eckhart vertritt. Die Übung besteht in der Meditation mit einem kurzen Wort, das die Grundsehnsucht des Betenden anspricht und ins reine Schweigen führt:
„Dein ganzes Leben muss von jetzt ab immer von der Sehnsucht erfüllt sein, wenn du auf der Stufenleiter der Vollkommenheit aufsteigen willst. Diese Sehnsucht muss immer in deinem Willen durch die Hand des allmächtigen Gottes und deiner Einwilligung entfacht werden. […] Was aber musst du tun und wie musst du es anstellen? Erhebe dein Herz zu Gott mit einer demütigen Regung der Liebe; meine Gott selbst und keine Seiner Eigenschaften. […] Habe nur Gott im Sinn, der dich erschuf, erkaufte und gnadenvoll zu diesem Werk gerufen hat, und lasse keine anderen Gedanken über Gott bei dir ein … denn es genügt vollauf, ein nacktes Verlangen nach Gott ohne einen anderen Grund als ihn selbst. Wenn du aber dieses Verlangen in ein Wort einkleiden möchtest, um dich besser daran halten zu können, so nimm nur ein kurzes Wort mit einer einzigen Silbe; das ist besser als eines mit zwei Silben, denn je kürzer es ist, desto besser passt es zum Werk des Geistes. Solch ein Wort ist das Wort ‚Gott‘ oder das Wort ‚Liebe‘ (love). Wähle welches du willst, oder auch ein anderes einsilbiges nach deinem Belieben. Hefte dieses Wort an dein Herz, auf dass es von dort nicht weiche, was immer auch geschehen mag. […] Beten ist an sich seiner Natur nach nichts anderes als ein inniges, unmittelbar auf Gott zielendes Gerichtetsein in der Absicht, Gutes zu erlangen und Böses abzuwenden.“
Nimmt man zusammen, was Eckhart in den Reden der Unterweisung und in seinen Predigten und Traktaten lehrt, so dreht sich alles nur um das Eine: um die Grundbotschaft des Neuen Testamentes. Wie Jesus wollte Eckhart die Botschaft von der Nähe Gottes unter den Bedingungen und mit dem Vokabular seiner Zeit ansagen. Hinter dieser anspruchsvollen, aber letztlich ganz einfachen Spiritualität der „Gottunmittelbarkeit“ steht ein gelehrter Kopf und ein betendes Herz. In Wissenschaft wie in Ordensamt, in Seelsorge und Verkündigung lebte und wirkte Meister Eckhart ganz und gar aus der Tiefenverbindung mit Gott. Deshalb kreist bei ihm alles um dieses eine Thema: die Einigung des gerechten Menschen mit dem lebendigen Gott.
Zum Abschluss die Legende „Von dem guten Morgen“ aus dem 14. Jahrhundert:
Wer hat dich heilig gemacht, Bruder? – Das tat mein Stillesitzen und meine hohen Gedanken und meine Vereinigung mit Gott, – das hat mich in den Himmel emporgezogen; denn ich konnte nie bei irgendetwas Ruhe finden, das weniger war als Gott.“
Originaltexte:
Josef Quint, Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, München 1977
– von P. Karl Kern SJ