Das Rätsel Auferstehung – ein lebenslanger Prozess? Eine österliche Betrachtung von P. Karl Kern SJ
„Auferstehung“ ist im Deutschen ein theologisches Kunstwort. Die meisten Menschen verbinden damit ein irgendwie geartetes Weiterleben nach dem Tod. In der Bibel findet sich dieser Fachausdruck nirgends. Da ist von „aufstehen“ oder „aufgeweckt werden“ die Rede. Daher stellt sich die Frage: Passt die gängige Vorstellung von Auferstehung nach dem Tod überhaupt zu den Texten des Neuen Testamentes?
Hochgefühl, das vergeht
Werfen wir dafür einen Blick in die Anfänge des Christentums! Im Jahre 50 n.Chr. hatte Paulus nach eineinhalb Jahren in der griechischen Hafenstadt Korinth eine bunte, blühende Gemeinde aus Juden und Heiden gegründet. Der Apostel war inzwischen nach Ephesus weitergezogen und erhielt beunruhigende Nachrichten aus Korinth. Einige Leute dort sagten: „Ein Aufstehen Toter gibt es nicht“ (1 Kor 15,12). Damit sollte indes nicht die Auferstehung nach dem Tod geleugnet werden. Vielmehr war für manche nach dem Enthusiasmus des Anfangs wieder der graue Alltag eingekehrt. Offenbar hatte Paulus in seiner Gemeinde eine Art Hochgefühl verbreitet. Doch die anfängliche Begeisterung war für einige verflogen, ähnlich wie sich nach einer Phase stürmischer Verliebtheit irgendwann Ernüchterung oder gar bittere Enttäuschung einstellen kann.
Lebenswende des Paulus
Für den Gründungsmissionar Paulus markierte unser Wort „Auferstehung“ seine entscheidende Lebenswende. Als gläubiger Jude hatte er nicht blindwütig, sondern in einem juristisch abgedeckten Verfahren die Jesusanhänger bis nach Syrien verfolgt. Doch vor Damaskus war ihm der Auferstandene „erschienen“. Diese Erfahrung war für ihn so umwerfend, dass sie seine gesamte Existenz völlig neu ausrichtete. Sein früheres Leben empfand er wie ein Existieren als „Totgeburt“ (1 Kor 15,8). Nun fühlte er sich von einer neuen, ungeahnten Lebendigkeit und Freiheit durchflutet. Denn sein Glaube an den Gott Israels hatte sich zu einer universalen Vision geweitet: Er hatte den gekreuzigten Messias Israels als Retter aller Menschen, als Inbegriff der grenzenlosen Liebe Gottes erkannt. Diese radikale Lebenswende wollte er von nun an als die Frohe Botschaft, als Botschaft von Kreuz und Auferstehung verkünden. Mit der Fackel seiner Begeisterung stürmte er durch das Römische Reich, um dieses innere Feuer zu verbreiten. Das zündete bei vielen, weckte allerdings auch massive Widerstände.
Eine neue Lebenseinstellung
Halten wir fest: In der ersten Christengeneration bedeutet „Auferstehung“ ein fundamentalneues Lebensgefühl im Hier und Jetzt. Doch niemand kann in der Dauerekstase leben. Unser Alltag ist geprägt von wechselnden Stimmungen, die manchmal zu Zerreißproben werden. Unsere durchmischten, oft auch widersprüchlichen Lebenserfahrungen werden für Paulus durch das umfassende Prinzip „Auferstehung“ zusammengehalten: Trotz allem Niederdrückenden und Beschwerlichen wieder „aufstehen“ und in geistiger Wachheit („aufgeweckt werden“) zu leben, heißt für ihn, an die Auferstehung oder besser, an den Auferstandenen und seine dauernde Gegenwart zu glauben.
Der gegenwärtige Herr
Dass der gekreuzigte Jesus von Gott auferweckt wurde und als „Herr“ an der Seite Gottes lebt, ist für Paulus Zentrum und Fundament seines Glaubens. Diese Botschaft hatte er von den ersten Augenzeugen übernommen und die Gegenwart des Auferstandenen vor Damaskus in unerhörter Weise selbst erfahren. Von da an lebte er täglich aus dem Kraftstrom, der ihm von seinem himmlischen Herrn zuströmte (1 Kor 15,1-11). In den Widrigkeiten und Widerständen des Lebens, besonders jedoch in der eigenen Schwachheit, selbst im Seufzen und Stöhnen, spürte er: Wenn ich mich im Vertrauen auf Gott loslasse, mich ihm ganz übergebe, dann kommt mir der unsichtbare Geist Gottes zu Hilfe und stärkt meine eigene begrenzte Geisteskraft. Tägliches „Sterben“ und „Auferstehen“ wurde künftig für Paulus zum durchgängigen Lebenskonzept, das er anderen weitergeben wollte.
Schon der irdische Jesus hatte davon gesprochen, dass nur der Mensch sein Leben gewinnt, der es wegschenkt und verliert (Mt 16,25). Hingabe aus Liebe wird so zur Grundformel fruchtbaren Lebens. Bei Jesus steigerte sich diese Hingabe bis zur Preisgabe des eigenen Lebens. Und so nimmt der Seelsorger Puls bei Problemen des Alltags (Streit, Rivalität, Ausgrenzung, sexuelles Fehlverhalten) immer Maß an der grenzenlosen Liebe des Gekreuzigten. Täglich „kleine Tode“ zu sterben wird zum Tor, das zur Auferstehung führt. Offenbar mangelte es den Auferstehungsleugnern in Korinth an dem Mut und der Geduld, die täglichen Widrigkeiten und Enttäuschungen im Vertrauen auf den bleibenden Beistand des Auferstandenen anzunehmen und anzugehen.
Auferstehung mitten am Tag
Wie lässt sich das Leben eines mit Christus Auferstandenen beschreiben? Wie fühlt es sich an, wie sieht es aus? Ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz (1901 – 1974) drückt in poetischen Bildern dieses neue Lebensgefühl aus:
Auferstehung
Manchmal stehen wir auf
Stehen wir zur Auferstehung auf
Mitten am Tage
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut.
Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.
Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.
Der Titel stellt zwar das gängige Kunstwort „Auferstehung“ voran, doch schon in der ersten Zeile wird der biblische Sprachgebrauch („aufstehen“) eingespielt. Marie Luise Kaschnitz will – ganz auf der Linie des Paulus – Auferstehung „mitten am Tag“ umschreiben: Kein Jenseitsbild, sondern ein Gefühl von Frische und Lebendigkeit („lebendiges Haar“, „atmende Haut“) mitten im „Gewohnten“. Da wird unsere Welt nicht heil und harmonisch („weidende Löwen“, „sanfte Wölfe“). Die Zeit („Weckuhren“) läuft unaufhaltsam weiter. Doch die reale Welt hat sich – von innen oder von außen her? – auf geheimnisvolle Weise verwandelt. Schweres wird plötzlich „leicht“, der verletzliche Mensch „unverwundbar“, das tägliche Chaos ist wundersam „geordnet“. Der graue Alltag, das unbehauste Leben, erstrahlt in einem Licht, das uns wie aus ferner Zukunft entgegenleuchtet. Dieses Licht verleiht dem Leben Farbe und haucht dem verlorenen, ungeborgenen Menschen eine Verheißung von ewiger Heimat ein.
Ein umfassendes Prinzip
Das Gedicht von Marie Luise Kaschnitz trifft in seiner Grundaussage, was Paulus im 15. Kapitel des Ersten Korintherbriefs darlegt. Er umkreist die geheimnisvolle Verwandlung des Alltäglichen, die aus dem Vertrauen auf den unsichtbaren Geist Gottes erwächst. Die Auferweckung des Gekreuzigten gibt ihm die Hoffnung, dass der Vater Jesu Christi einmal „ganz und gar ‚Gott‘ sei in allen“ (1 Kor 15,28). Die jüdisch geprägte Hoffnungsgestalt des Glaubens gewinnt nach Paulus durch tägliche Auferstehungserfahrungen Gewissheit und Festigkeit: Die neue Art von Lebendigkeit lässt wahrhaft auf ewiges Leben hoffen!
Paulus denkt dabei typologisch: Jeder Mensch hat durch den ersten Menschen, Adam („Erdling“), einen Leib, der dem Tod geweiht ist. Wer nur diese Dimension des Lebens sieht, muss nach der Devise leben: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sterben wir“ (1 Kor 15,33)! Christus dagegen verkörpert für Paulus den Typus des himmlischen Menschen. Er ist „Anführer des Lebens“, denn er will alle Menschen zum unvergänglichen Leben führen. Dieses Neuwerden durch den Glauben an den Auferstandenen beginnt im Hier und Jetzt. „Auferstehung“ ist für ihn das umfassende Prinzip christlichen Lebens, das mit Bekehrung und Taufe beginnt und im Tod seine Vollendung findet. Und wenn Paulus am Ende seiner Ausführungen auf die Überwindung des Todes zu sprechen kommt, redet er nicht von der „Auferstehung“, sondern von der „Verwandlung“ der Glaubenden (1 Kor 15,51).
Das Rätsel Auferstehung
Die isolierte Sicht, „Auferstehung“ lediglich als Weiterleben nach dem Tod zu deuten, ist im Grunde so verkürzt, dass sie in biblischer Perspektive falsch ist. Mit dem Blick allein auf das Jenseits ist das „Rätsel Auferstehung“ nicht zu lösen. Wir haben den Tod als absolute Grenze zu respektieren, auch als Grenze aller unserer Vorstellungen und Bilder. Paulus spricht ganz am Ende seines Auferstehungskapitels bezeichnenderweise nicht vom Jenseits, sondern von der Festigkeit „in der Anstrengung des Herrn“ (1 Kor 15, 58). So charakterisiert er das täglich gepflegte Leben aus dem Glauben. Der Apostel redet von der „Mühe“, die nicht „leer und fruchtlos“ ist. Damit ist die Mühe der gelebten Liebe meint. Alltägliche Liebe ist Arbeit und Mühe! Oftmals legt er seinen Gemeinden noch die Geduld in der Hoffnung ans Herz.
Wir sollten also die Rätselfrage nach der jenseitigen Auferstehung umformulieren und uns persönlich fragen: Gibt es in meinem Leben hier eine Frucht, die bleibt? Erfolg, Geld, Eigentum, Macht, Lust oder Ansehen können das wohl nicht sein. Paulus hat unnachahmlich in Worte gefasst, was die Frucht des Lebens ist: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe“ (1 Kor 13,13).
(Zitate und Gedankengang zu 1 Kor 15 folgen: Norbert Baumert, Sorgen des Seelsorgers, Übersetzung und Auslegung des ersten Korintherbriefs, Würzburg, Echter-Verlag 2007, Reihe ‚Paulus neu gelesen‘)